»Was habt Ihr mit dem Ork und dem Warg gemacht?« fragte Bilbo plötzlich.
»Kommt und seht!« sagte Beorn, und sie folgten ihm um das Haus. Ein Orkkopf stak auf dem Gatter, und ein Wargfell war draußen an einen Baumstamm genagelt. Beorn war ein schrecklicher Feind. Aber jetzt war er ihr Freund, und Gandalf hielt es für klug, ihm ihre ganze Geschichte zu erzählen und den Grund für ihre Reise, so daß sie alle nur mögliche Hilfe von ihm bekommen konnten.
Und dies versprach er für sie zu tun: Er wollte jedem ein Pony geben und Gandalf ein Pferd für den Marsch bis zum Wald. Dazu sollten sie Nahrungsmittel haben, die bei sorgfältigem Gebrauch für Wochen reichen und die so verpackt sein sollten, daß sie so leicht wie irgend möglich zu tragen waren: Nüsse, Mehl, verschlossene Krüge mit getrocknetem Obst, rote, irdene Töpfe mit Honig, Zwieback, der sich lange halten würde und von dem schon eine Handvoll notfalls für einen langen Marsch genügte. Seine Herstellung war eines seiner Geheimnisse. Aber es war Honig darin, wie in den meisten seiner Nahrungsmittel. Sie schmeckten gut, obgleich sie durstig machten. Wasser, so sagte er, brauchten sie auf dieser Seite des Waldes nicht mitzuschleppen, denn es gäbe Bäche und Quellen genug am Weg. »Aber euer Pfad durch den Nachtwald ist dunkel, gefährlich und schwierig«, fügte er hinzu.
»Wasser ist dort nicht leicht zu finden, und Nahrungsmittel schon gar nicht. Die Zeit für Nüsse ist noch nicht gekommen (obgleich sie kommen und sogar vorübergehen kann, ehe ihr die andere Seite erreicht), und Nüsse sind von allem, was dort wächst, das einzige zum Essen. Die Wildnis ist finster und sonderbar und unberechenbar. Ich will euch mit Häuten versorgen, in denen ihr Wasser mitnehmen könnt, auch will ich euch Bogen und Pfeile geben. Aber ich zweifle sehr, ob irgend etwas im Nachtwald wirklich genießbar ist. Einen Fluß gibt es dort, der schwarz und rasch fließend euren Pfad kreuzt. Trinkt ja nicht aus ihm und badet nicht darin, denn ich habe gehört, daß er verzaubert ist und Schlafmüdigkeit und Vergessen bringt. Und in dem trüben Schatten dieses Waldes werdet ihr nichts Genießbares oder Ungenießbares schießen können, ohne den Pfad zu verlieren. Den Pfad aber dürft ihr niemals verlassen, aus keinem noch so wichtigen Grund.
Das ist alles, was ich euch raten kann. Jenseits des Waldrandes kann ich euch so gut wie gar nicht helfen. Ihr müßt euch auf euer Glück, euren Mut und die Lebensmittel verlassen, die ich euch mitgebe. Mein Pferd und meine Ponys müßt ihr am Rand des Waldes, darum muß ich euch bitten, zurückschicken. Ich wünsche euch guten Weg, und mein Haus steht euch offen, wenn ihr je diesen Weg zurückkommt.«
Sie dankten ihm mit vielen Verbeugungen und dem Schwenken ihrer Kapuzen und manchem »zu Euren Diensten, o Herr der großen hölzernen Hallen!« Aber ihr Herz sank ihnen bei diesen ernsten Worten in die Hose, und sie spürten, daß das Abenteuer viel gefährlicher war, als sie angenommen hatten, denn selbst wenn sie alle Gefahren des Weges bestanden, so wartete doch noch der Drache am Ende auf sie.
Den ganzen Morgen waren sie geschäftig bei ihren Vorbereitungen. Am frühen Nachmittag aßen sie zum letztenmal mit Beorn, und nach der Mahlzeit bestiegen sie die Streitrosse, die er ihnen lieh. Sie riefen ihm manchen Abschiedsgruß zu und ritten eilig zum Gatter hinaus.
Als sie die hohen Hecken im Osten von Beorns eingefriedetem Land hinter sich ließen, wandten sie sich nach Norden und später nach Nordwest. Auf seinen Rat hin strebten sie nicht mehr dem Hauptweg quer durch den Wald zu, der südlich seines Landes begann und der Alte Nachtwaldweg genannt wurde. Wären sie dieser Straße gefolgt, so hätte ein kleiner Wasserlauf aus dem Gebirge sie bis zum Gewaltigen Fluß geführt, viele Meilen südlich vom Carrock. An diesem Punkt lag eine tiefe Furt, die sie hätten kreuzen können – wenn sie ihre Ponys noch gehabt hätten. Auf der anderen Seite führte ein schmaler Steig zum Saum des Nachtwaldes und zum Beginn des Alten Nachtwaldweges.
Aber Beorn hatte sie gewarnt, daß sich gerade auf diesem Steig oft Orks herumtrieben, während der Waldweg selbst, wie er gehört hatte, zugewachsen war und am östlichen Ende gar nicht mehr benutzt wurde und in unwegsame Sümpfe führte. Außerdem lag der Ostausgang so weit südlich des Einsamen Berges, daß sie von dort einen langen und schwierigen Marsch nach Norden hätten antreten müssen.
Nördlich des Carrocks schloß sich der Saum des Nachtwaldes dichter an die Ufer des Gewaltigen Flusses an, und obgleich hier auch das Gebirge näher herankam, hatte Beorn ihnen geraten, diesen Weg zu gehen. Denn an einer Stelle, die nur wenige Tagesritte nördlich des Carrocks lag, fand sich der Eingang eines kaum bekannten Pfades quer durch den Nachtwald, der geradewegs auf den Einsamen Berg zulief.
»Die Orks«, hatte Beorn gesagt, »werden noch hundert Meilen nördlich vom Carrock den Gewaltigen Fluß nicht überqueren, und um mein Haus – nachts ist es wohlgeschützt! einen großen Bogen machen; aber dennoch: Ich würde rasch reiten. Denn wenn sie ihren überfall bald ausführen, so kreuzen sie den Fluß im Süden und streifen den ganzen Waldrand ab, um euch den Weg abzuschneiden, und Warge rennen rascher als Ponys. Kurz: Es ist sicherer, wenn ihr euch nach Norden wendet, selbst wenn es scheint, als rittet ihr zurück und gerietet wieder in die Nähe ihres Reiches. Denn das werden sie am wenigsten erwarten; und sie werden länger reiten müssen, wenn sie euch fangen wollen. Reitet nun los, so schnell ihr könnt!«
Deshalb also ritten sie jetzt schweigsam, galoppierten, wo der Grund grasig und eben war; das Gebirge lag finster zu ihrer Linken, und die Linie des Flusses mit seinen Bäumen rückte immer dichter heran. Die Sonne hatte sich gerade dem Westen zugewandt, als sie aufbrachen, und am Abend lag sie golden auf dem Land. Es war schwer, gerade jetzt an eine Verfolgung durch Orks zu denken, und als so manche Meile sie von Beorns Haus trennte, fingen sie wieder an zu reden und zu singen und vergaßen den finsteren Waldweg, der vor ihnen lag. Aber am Abend, als die Dämmerung kam und die Gipfel des Gebirges im Sonnenuntergang glühten, machten sie Rast und stellten eine Wache auf, und die meisten schliefen mit schweren Träumen ein, in denen das Geheul jagender Wölfe widerklang und das Geschrei der Orks.
Doch der nächste Morgen zog strahlend und klar herauf. Es lag herbstlich weißer Nebel auf der Erde, und die Luft war kalt. Als die Sonne sich rot im Osten erhob, zergingen die Nebelbänke, und als die Schatten noch lang waren, zogen die Zwerge weiter. So ritten sie noch zwei weitere Tage, und während der ganzen Zeit sahen sie nichts anderes als Gras und Blumen und Vögel und einzelne Bäume und gelegentlich kleine Rudel Hirsche, die ästen oder am Nachmittag im Schatten ruhten.
Manchmal sah Bilbo Geweihe aus dem hohen Gras ragen, und zuerst dachte er, es wären abgestorbene Baumäste.
Am dritten Abend hatten sie es sehr eilig, vorwärts zu kommen, denn Beorn hatte gesagt, sie würden den Eingang des Nachtwaldes früh am vierten Tag erreichen. Sie ritten also nach Einbruch der Dämmerung immer noch weiter, im Mondenschein bis tief in die Nacht. Als das Licht zu schwinden begann, war es Bilbo, als ob er dann und wann auf seiner Rechten oder auf seiner Linken die dunklen Umrisse eines großen Bären in gleicher Richtung trotten sah. Aber als er es wagte, Gandalf darauf aufmerksam zu machen, antwortete der Zauberer nur: »Still, schaut nicht hin! «
Am nächsten Tag brachen sie noch vor der Dämmerung auf, obgleich ihre Nachtruhe nur kurz gewesen war. Sobald es hell wurde, sahen sie den Wald auf sich zukommen, als ob er sie erwarte eine schwarze und finstere Wand. Das Land stieg allmählich an, und es war dem Hobbit, als ob ein großes Schweigen sie fest umschloß. Wenige Vögel sangen noch. Es gab kein Rotwild, selbst Kaninchen waren nicht mehr zu entdecken. Nachmittags endlich erreichten sie den Rand des Nachtwaldes und rasteten unter dem gewaltig überhängenden Laubwerk der äußeren Bäume. Ihre mächtigen Stämme waren knorrig, ihre Zweige ineinander verschlungen, ihre Blätter dunkel und lang.