»Ich bin immer der letzte, das paßt mir gar nicht«, brummte Bombur. »Laßt diesmal einen anderen an den Schluß.«
»Wenn Ihr nicht so fett wäret! Da Ihr es aber seid, müßt Ihr bei der leichtesten und letzten Bootslast sein. Fangt nicht an, gegen Befehle zu murren, oder es wird Euch noch etwas übles zustoßen.«
»Ruder gibt es nicht. Wie wollt Ihr das Boot ans andere Ufer zurückbringen?« fragte der Hobbit.
»Gebt mir ein anderes Stück Leine und einen anderen Haken«, sagte Fili, und als alles bereit war, warf er ihn in die Finsternis nach vorn und so hoch, wie er nur konnte. Da Haken und Leine nicht herunterfielen, mußten sie wohl in den Zweigen festhängen. »Steigt ein«, sagte Fili, »und einer holt das Boot an der Leine hinüber, die drüben in den Zweigen sitzt. Ein anderer muß den Haken nehmen, den wir zuerst benutzten, und wenn wir sicher auf der anderen Seite sind, haken wir das Boot damit an, und ihr könnt es zurückziehen.«
Auf diese Weise gelangten sie bald alle sicher ans andere Ufer des verzauberten Flusses. Dwalin war gerade mit der Taurolle am Arm aus dem Boot geklettert, und Bombur (der noch immer murrte) machte sich bereit, ihm zu folgen, als etwas Böses sich ereignete. Vor ihnen auf dem Pfad war das Geräusch flüchtender Hufe zu hören, und aus dem Dämmer tauchten plötzlich die Umrisse eines fliehenden Hirsches auf. Er raste mitten in die Zwerge und warf sie wie ein Kegelspiel um, dann setzte er zu einem Sprung an. Hoch, mit einem mächtigen Satz, sprang er und über das Wasser hinweg.
Aber das andere Ufer rettete ihn nicht. Thorin war der einzige, der sich auf den Füßen gehalten und noch seinen Verstand beisammen hatte. Sogleich nach der Landung hatte er für den Fall, daß ein verborgener Hüter des Bootes erschiene, den Bogen gespannt und einen Pfeil aufgelegt. Und jetzt sandte er einen schnellen und sicheren Schuß hinter dem springenden Tier her. Als der Hirsch das jenseitige Ufer erreichte, stolperte er. Die Schatten verschlangen ihn, aber sie hörten den Hufschlag stocken, und es wurde still.
Noch ehe sie zu Ehren dieses Schusses in lautes Lob ausbrechen konnten, vernichtete ein schreckliches Klagegeschrei mit einem Schlage alle Gedanken an Hirschbraten.
»Bombur ist hineingefallen! Bombur ertrinkt!« schrie Bilbo. Es war nur zu wahr. Bombur hatte kaum einen Fuß an Land, als der Hirsch auf ihn zugerast kam und über ihn hinwegsetzte. Bombur war gestolpert, hatte dabei das Boot vom Ufer weggestoßen und war selbst ins Wasser geplumpst. Seine Hände rutschten an den glitschigen Uferwurzeln ab, während das Boot langsam abzog und verschwand.
Sie konnten gerade noch Bomburs Kapuze über dem Wasser sehen, als sie zum Ufer rannten. Schnell warfen sie ihm eine Hakenleine zu. Seine Hand ergriff sie, und sie zogen ihn an Land. Er war von Kopf bis Fuß durchnäßt, natürlich, aber das war nicht das Schlimmste. Als sie ihn aufs Ufer legten, war er schon fest eingeschlafen. Seine Hand umklammerte so zäh die Leine, daß sie den Griff nicht zu lösen vermochten. Und er blieb in tiefstem Schlaf, trotz allem, was sie mit ihm anstellten.
Noch immer standen sie um ihn herum, verwünschten ihr Mißgeschick und Bomburs Ungeschicktheit und klagten über den Verlust des Bootes, der es ihnen unmöglich machte, nach dem Hirsch zu suchen. Da hörten sie fernes Hörnerblasen im Wald und Laute, die wie das Kläffen von Hunden klangen. Sie wurden ganz still. Und als sie sich niedersetzten, schien es ihnen, als ginge nördlich des Pfades eine große Jagd durch den Wald. Freilich, sehen konnten sie nicht das geringste.
So saßen sie für eine lange Weile und wagten nicht, sich zu bewegen. Mit einem Lächeln auf seinem wohlgenährten Gesicht schlief Bombur weiter, als wäre er nun glücklich all die Sorgen los, mit denen sie sich herumschlagen mußten. Aber auf dem Pfad vor ihnen erschienen plötzlich einige weiße Tiere, eine Hindin und zwei Hirschkälbchen. Sie waren ebenso schneeweiß, wie der Hirsch schwarz gewesen war. Vor den tiefen Schatten leuchteten sie hell auf. Noch ehe Thorin den Mund aufmachen konnte, waren drei von den Zwergen aufgesprungen und hatten mehrere Pfeile verschossen. Keiner schien getroffen zu haben. Die Tiere wandten sich um und verschwanden ebenso leise zwischen den Bäumen, wie sie aufgetaucht waren. Vergeblich schossen die Zwerge hinter ihnen her.
»Halt! Halt!« schrie Thorin. Aber es war zu spät. Die aufgeregten Zwerge hatten ihre letzten Pfeile vergeudet, und die Bogen, die Beorn ihnen mitgegeben hatte, waren jetzt nutzlos.
Eine trübsinnige Gesellschaft waren sie in dieser Nacht, und ihre Stimmung wurde in den folgenden Tagen nur noch schlechter. Sie hatten den verzauberten Fluß überquert, aber hier sah der Weg genauso verloren aus wie auf der anderen Seite, und der Wald schien unverändert. Wären sie jedoch vertrauter mit diesem Wald gewesen und hätten die Bedeutung der Jagd und der weißen Tiere, die vor ihnen auf dem Weg aufgetaucht waren, richtig eingeschätzt, hätten sie gewußt, daß sie jetzt auf den Ostrand zugingen. Bald würden sie, wenn sie Mut und Hoffnung behielten, zu dünnstämmigeren Bäumen und sonnenbeschienenen Stellen kommen.
Aber sie wußten es nicht, und überdies schleppten sie sich mit dem schweren Bombur ab – so gut es ging und zu viert der Reihe nach, während die anderen das Gepäck aufteilten. Wenn dies in den letzten Tagen nicht so leicht geworden wäre, hätten sie es nie geschafft. Doch ein schlummernder, lächelnder Bombur war ein schlechter Ersatz für ein Gepäck voll guter Lebensmittel – auch wenn es noch so schwer sein mochte. In wenigen Tagen kam dann auch die Zeit, wo es praktisch nichts mehr zu essen und zu trinken gab. Im Wald sahen sie ebenfalls nichts Genießbares, nur Pilze und sonderbare Kräuter mit fahlen Blättern und von unerfreulichem Geruch.
Etwa vier Tagemärsche nach dem verzauberten Fluß kamen sie an eine Stelle, die meist von Buchen bestanden war. Anfangs waren sie geneigt, erleichtert den Wechsel zu begrüßen, denn hier gab es kein Unterholz, und die Schatten waren nicht so tief. Es herrschte ein grünliches Licht an beiden Seiten des Pfades. Aber das Licht zeigte ihnen nur endlose Reihen von geraden, grauen Stämmen, wie Säulen einer riesigen Halle im Zwielicht. Man spürte einen Lufthauch und das Sausen des Windes, aber es klang schwermütig. Raschelnd segelten ein paar Blätter herab und erinnerten sie daran, daß es draußen Herbst werden wollte. Ihre Füße stöberten durch die Blätter zahlloser anderer Herbstzeiten, Blätter, die von den tiefen, roten Teppichen des Waldes über den Rand des Pfades trieben.
Bombur schlief immer noch, und sie waren völlig ausgepumpt. Zuweilen hörten sie ein beunruhigendes Gelächter; zuweilen auch Singen in der Ferne. Das Lachen war kein Orkgelächter, sondern rührte von hellen Stimmen her, und das Singen war sehr schön. Doch es klang unheimlich und fremdartig, und es war ihnen nicht wohl dabei. Sie beeilten sich, so rasch es ihre schwachen Kräfte erlaubten, diese Gegend hinter sich zu lassen.
Zwei Tage später merkten sie, daß der Pfad sich zu neigen begann. Nicht lange, und sie fanden sich in einem Tal, das fast ganz von einem mächtigen Schlag Eichen ausgefüllt war.
»Ist dieser verfluchte Wald immer noch nicht zu Ende?« fragte Thorin. »Da muß einmal jemand auf einen Baum klettern und sich umsehen. Am besten, er nimmt den höchsten Baum, der gleich hier am Weg steht.«
Natürlich war mit diesem Jemand Bilbo gemeint. Sie wählten diesen Baum, denn wenn der Späher überhaupt Erfolg haben sollte, so mußte er den Kopf über die höchsten Kronen erheben können und leicht genug sein, damit die obersten und dünnsten Äste ihn trugen. Der arme Mister Beutlin hatte sich nie groß im Baumklettern geübt, aber sie hoben ihn in die unteren Äste einer riesenhaften Eiche, die unmittelbar neben dem Pfad wuchs, und dann mußte er sich emporarbeiten, so gut er es konnte.
Er bahnte sich seinen Weg durch das verfilzte Astgewirr hindurch und bekam manchen Zweig ins Auge. Grün und schwarz schmierte ihn die alte Rinde der größeren Äste ein. Mehr als einmal rutschte er aus und hielt sich gerade noch im letzten Augenblick fest, aber schließlich, nach einer schrecklichen Anstrengung an einer schwierigen Stelle, wo es auch nicht einen einzigen passenden Ast zu geben schien, gelangte er bis nahe an den Wipfel heran. Während der ganzen Zeit kam es ihm vor, als ob Spinnen in dem Baum hausten, und er machte sich Sorge, auf welche Weise er wohl wieder hinunterklettern sollte (wenn er nicht gerade hinunterfallen wollte).