Schließlich steckte er seinen Kopf durch das Blätterdach, und da sah er die Spinnen. Aber es waren nur kleine, von gewöhnlicher Größe, und sie jagten hinter den Schmetterlingen her. Bilbos Augen wurden vom Licht nahezu geblendet. Er hörte die Zwerge von tief unten heraufrufen, aber antworten konnte er nicht – festhalten und blinzeln, das war alles, was er zunächst tun konnte. Die Sonne schien außerordentlich hell, und es dauerte lange, bis er sich daran gewöhnt hatte. Aber danach sah er um sich einen Ozean aus düsterem Grün, den da und dort eine Brise kräuselte. Und überall segelten Hunderte von Schmetterlingen. Ich nehme an, es war eine Art Purpurschillerfalter, ein Schmetterling, der die Wipfel der Eichenwälder liebt, aber diese waren keineswegs purpurn, sondern tief samtschwarz ohne irgendeine Zeichnung.
Bilbo betrachtete lange die Nachtschillerfalter und genoß den Wind in seinen Haaren und im Gesicht.
Aber schließlich erinnerte ihn das Geschrei der Zwerge, die vor Ungeduld unten aufstampften, an seine eigentliche Aufgabe. Es stand nicht gut. Sosehr er sich anstrengte, er konnte kein Ende absehen. Bäume und Blätter in jeder Richtung. Sein Herz, das beim Anblick der Sonne und beim Gruß des Windes fröhlich geworden war, sank ihm in die Hose: Da gab es nichts, mit dem er die da unten hätte aufmuntern können. In Wirklichkeit aber, wie ich schon sagte, waren sie nicht mehr weit vom Rand des Waldes entfernt. Und wenn Bilbo so viel Orientierungssinn gehabt hätte, zu erkennen, daß sein Ausguckbaum, obgleich selbst sehr hoch, doch nur im Grund eines breiten Tales stand, so hätte er gewußt, daß von seinem Wipfel aus ringsum die Bäume wie an den Rändern einer großen Schüssel sich auftürmten und daß man von hier aus nicht ermessen konnte, wie groß der Wald wirklich war.
Aber diesen Sinn hatte Bilbo nicht, und er kletterte voll Verzweiflung hinab. Er erreichte den Boden zerkratzt, erhitzt und elend und konnte im Dämmerlicht unten zunächst nichts unterscheiden. Sein Bericht machte die anderen genauso trübselig und elend, wie er selbst war.
»Der Wald geht nach allen Richtungen hin endlos weiter! Was sollen wir bloß tun? Und wozu ist es nütze, einen Hobbit auszuschicken!« schrien sie, als ob es seine Schuld wäre. Sie kümmerten sich keinen Pfifferling um die Schmetterlinge und wurden nur noch zorniger, als er von der wunderschönen Brise dort oben erzählte, die sie nicht spüren konnten, weil sie viel zu schwerfällig waren, um hinaufzuklettern.
An diesem Abend aßen sie ihre letzten Krümel, und das erste, was sie am nächsten Morgen spürten, war nagender Hunger. Und das nächste, daß es regnete und daß hier und dort ein Tropfen schwer auf den Waldboden schlug. Dies hinwiederum erinnerte sie daran, daß sie vor Durst geradezu ausgebrannt waren und nichts daran ändern konnten. Man kann einen schrecklichen Durst nicht dadurch löschen, daß man unter Rieseneichen steht und auf den Glückszufall eines Regentropfens wartet, der einem auf die Zunge fällt. Das einzige bißchen Trost kam ganz unerwartet von Bombur.
Er erwachte plötzlich, setzte sich auf und kratzte sich den Kopf Er konnte nicht herausfinden, wo er war, noch warum er solchen Hunger hatte. Er hatte alles vergessen, was seit jenem Maimorgen vor langer, langer Zeit geschehen war. Das letzte, an das er sich erinnerte, war die Gesellschaft im Haus des Hobbits. Sie hatten große Schwierigkeiten, ihm die ganze Reisegeschichte mit all den unglaublichen Abenteuern begreiflich zu machen.
Als er hörte, daß es nichts zu essen gab, setzte er sich hin und weinte, denn er fühlte sich schwach und wacklig in den Knien.
»Warum bin ich überhaupt erwacht!« rief er. »Ich hatte solch wunderschöne Träume. Mir träumte, ich ginge in einem Wald, der ganz ähnlich aussah wie dieser, spazieren. Nur war er durch Fackeln an den Bäumen erleuchtet, von Lampen, die von den Ästen herabhingen, und von Feuern, die auf dem Boden brannten. Ein großes Fest wurde da gefeiert und nahm überhaupt kein Ende. Ein Waldlandkönig saß dort mit einer Blattkrone, es wurde fröhlich gesungen, und ich könnte die Herrlichkeiten weder zählen noch beschreiben, die es da zu essen und zu trinken gab.«
»Ihr braucht es gar nicht erst zu versuchen«, sagte Thorin.
»Wirklich, wenn Ihr nichts anderes erzählen könnt, dann seid besser still. Wir hatten sowieso schon genug Scherereien mit Euch. Wärt Ihr jetzt nicht aufgewacht, so hätten wir Euch mit Euren idiotischen Träumen im Wald liegengelassen. Es macht kein Vergnügen, Euch nach Wochen spärlichster Ernährung spazierenzutragen.«
Es blieb nichts anderes übrig, die Gürtel mußten fester um die leeren Mägen geschnallt werden, die leeren Säcke und das Gepäck wurden geschultert, und dann stolperten sie weiter den Pfad entlang.
Sie hatten wenig Hoffnung, das Ende zu erreichen, ehe sie sich hinlegen und den Hungertod sterben mußten. So gingen sie noch den ganzen Tag, langsam und mühsam, während Bombur stöhnte, seine Beine würden ihn nicht mehr tragen, und er wünschte bloß, sich hinlegen und schlafen zu können.
»Nein, das kommt nicht in Frage!« sagten sie. »Laßt Eure Beine auch ihr Päckchen schleppen, wir haben Euch lange genug getragen.«
Wie dem auch sei, plötzlich weigerte er sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen, und warf sich auf den Boden. »Geht weiter, wenn ihr Lust habt«, sagte er. »Ich für meinen Teil ziehe es vor, hier zu liegen, zu schlafen und vom Essen zu träumen, wenn ich es anders nicht haben kann. Ich hoffe bloß, daß ich nie wieder aufwache.«
Gerade in diesem Augenblick rief Balin, der ein bißchen voraus war: »Was war denn das? Mir kam es vor, als schimmerte da ein Licht aus dem Wald.«
Sie strengten ihre Augen an, und es schien ihnen, als ob sie ein gutes Stück entfernt etwas Rotes in der Dunkelheit schimmern sahen. Und dann blinkten immer mehr Lichter daneben auf Selbst Bombur erhob sich, und sie rannten darauf zu, ohne sich darum zu kümmern, ob dort am Ende Trolle oder Orks auf sie warteten. Die Lichter waren gerade vor ihnen links vom Weg, und als sie auf deren Höhe .gekommen waren, sahen sie deutlich Fackeln und Feuer unter den Bäumen brennen – jedoch ein gutes Stück weg von ihrem Pfad.
»Das sieht ja aus, als ob meine Träume Wahrheit würden«, sagte Bombur, der schnaufend herankam.
Er wollte geradewegs in den Wald hinein und auf die Lichter zugehen. Aber die anderen erinnerten sich nur allzugut an die Warnung Gandalfs und Beorns.
»Ein Fest würde nichts Gutes bedeuten, wenn wir lebendig nicht wieder zurückkommen könnten«, sagte Thorin.
»Aber ohne Fest werden wir auch nicht am Leben bleiben«, antwortete Bombur, und Bilbo stimmte ihm herzlich bei. So stritten sie eine lange Weile vorwärts und rückwärts, bis sie schließlich übereinkamen, ein paar Späher loszuschicken, die sich an die Lichter heranmachen und mehr darüber herausfinden sollten. Aber sie kamen nicht überein, wer geschickt werden sollte – keiner war gerade scharf darauf, verlorenzugehen und seine Freunde nie wiederzufinden. Am Ende hatte trotz aller Warnungen der Hunger das letzte Wort, denn Bombur fuhr fort, all die guten Sachen zu beschreiben, die dort seinem Traum zufolge auf dem Waldfest verspeist wurden. So verließen alle den Pfad und stürzten sich gemeinsam in den Wald.
Nachdem sie ein ganzes Stück gekrochen und geschlichen waren, schielten sie um die Baumstämme herum und gewahrten eine Lichtung, wo einige gefällte Bäume lagen und der Grund geebnet war. Viel Volk gab es dort, das nach Elben ausschaute. Alles war grün und braun gekleidet, und man saß im Kreis auf zurechtgesägten Klötzen. Ein Feuer brannte in der Mitte, Fackeln waren rings an den Bäumen befestigt. Aber der schönste Anblick war doch, daß alles aß und trank und lustig lachte.