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Der Wachtmeister durfte auf Geschäftskosten am Ausschank ein Bier trinken.

Wo man auch hinschaute, überall wurde das Abendblatt studiert. Es war zwar neu, aber Neues über Mäxchen stand nicht darin. Trotzdem hatte der Gerichtsreporter einen kurzen Artikel über den ungeklärten Kriminalfall verfaßt. Alle Gäste im ,Goldenen Schinken‘ lasen ihn, und ihr Essen wurde kalt. Auch Rosa Marzipan und der Jokus blickten, dicht aneinandergelehnt, in die Zeitung. Dort stand auf der ersten Seite rechts oben:

Rätsel um den Kleinen Mann

Wo ist er? Wo hat man ihn verborgen? In welcher Straße? In welchem Hause? In welchem Zimmer? Eine ganze Stadt hält den Atem an. Eine ganze Stadt ist ratlos. Kriminalkommissar Steinbeiß zuckt die Achseln. Er und seine Beamten sehen übernächtig aus. Was haben sie bis jetzt entdeckt? Eine weiße Kellnerjacke in einem Mülleimer. Und das Geschäft, wo die weiße Jacke gekauft wurde.

Sonst? Nichts. Wie sah der Käufer aus? War es der falsche Kellner‘? Oder war es ein Komplice? Stieg der Verbrecher, der den Kleinen Mann entführte, in ein Auto, das auf ihn wartete? Verlor er sich zu Fuß in der Menge?

Pausenlos prüft die Kriminalpolizei Hunderte von telefonischen und brieflichen Hinweisen aus den Kreisen der Bevölkerung. Die Arbeit ist ungeheuer. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Das Resultat ist null. Trotzdem darf unsere Wachsamkeit nicht nachlassen.

Mögen auch tausend Fingerzeige in die Irre führen, so wäre die Mühe reichlich belohnt, wenn der tausendunderste Hinweis dazu verhülfe, den Kleinen Mann, diesen Liebling der Bevölkerung, gesund an Leib und Leben in unsere Mitte zurückzubringen.

Ja, es war schlimm. Sehr schlimm. Niemand kannte die Straße, das Haus und das Zimmer, wo Mäxchen gefangengehalten wurde. Und wie viele Straßen, Häuser und Zimmer gibt es in einer Großstadt mit mehr als einer Million Einwohnern!

Nicht einmal Mäxchen selber wußte, wo er war. Er kannte nur das Zimmer, wo Bernhard und der kahle, versoffene Otto ihn bewachten. Und das war eines jener billig möblierten Zimmer, die einander so ähnlich sind wie Konfektionsanzüge. Doch auch wenn es ein Salon mit venezianischen Spiegeln und mit einem Selbstporträt von Goya an der Wand gewesen wäre, was hätte es dem kleinen Gefangenen genützt? Die Hausnummer und den Straßennamen hätte er dadurch auch nicht erfahren.

Etwas hatte er allerdings dem Jokus, dem Marzipanmädchen, der Polizei, dem Zirkus und der übrigen Welt voraus: Er wußte zuverlässig, daß er noch immer gesund und am Leben war! Das wußte die übrige Welt nicht. Und Mäxchen machte sich große Sorgen, daß sich der Jokus deshalb große Sorgen machte. Ja, es war schon schlimm. Sehr schlimm.

Die beiden Gauner paßten auf wie die Heftelmacher. Meist zu zweit. Allein ließen sie ihn keine halbe Sekunde. Auch nachts nicht. Einer saß immer neben der Streichholzschachtel und bewachte ihn. Zum Essen verschwanden sie abwechselnd. Und sie aßen, um niemandem aufzufallen, jeden Tag in anderen Restaurants.

Mäxchens kleine Mahlzeiten briet und kochte Otto auf einem Propangaskocher. Er tat es mehr schlecht als recht, obwohl er sich ziemlich viel Mühe gab. „Iß mal tüchtig“, sagte er immer. „Denn wenn du krank wirst oder abkratzt, läßt uns Lopez verkehrt aufhängen.“

„Wer ist denn eigentlich dieser Senor Lopez?“ fragte Mäxchen.

„Das geht dich einen feuchten Dreck an!“ antwortete Otto gereizt und funkelte böse mit seinen rotgeränderten Schlitzaugen.

Mäxchen lächelte und schwieg. Dann sagte er plötzlich: „Mach bitte das Fenster auf. Ich brauche frische Luft.“

Otto stand ächzend auf, öffnete das Fenster und setzte sich wieder.

Nach einer Weile tat Mäxchen, als ob ihn fröre. „Mich friert. Mach bitte das Fenster zu!“

Otto stand ächzend auf, schloß das Fenster und setzte sich wieder.

Fünf Minuten später fragte Mäxchen: „Ist noch etwas von dem Ananastörtchen übrig?“

Otto stand ächzend auf, blickte in den Schrank, setzte sich wieder und knurrte: „Nein. Du hast es aufgefressen.“

„Geh doch bitte in die Konditorei und hol mir ein neues!“ „Nein!“ brüllte Otto, daß die Wände zitterten. „Nein, du kleine Kanaille!“ Dann besann er sich, daß er für Mäxchens Wohlbefinden verantwortlich war, gab sich einen Ruck und erklärte so sanft, wie er konnte: „Ich hole dir eines, wenn Bernhard vom Mittagessen zurück ist.“

„Besten Dank im voraus“, sagte Mäxchen freundlich und wartete gespannt, daß irgend etwas geschähe. Daß jemand an die Wohnungstür klopfe oder daß es klingle und daß jemand aus dem Hause sich wütend erkundige, warum mittags so abscheulich gebrüllt werde. Denn nur deswegen schikanierte er ja den kahlen Otto bis zum Weißglühen! Der Kerl sollte ja brüllen! Wie am Spieße!

Merkwürdig, dachte der Kleine Mann. Zu zwei Zimmern gehört schließlich ein ganzes Haus ... Und in einem Haus wohnen schließlich Leute ... Aber es klopft keiner, und es klingelt niemand ... Wo bin ich bloß? Er ließ sich’s nicht anmerken, wie ihm zumute war. Aber insgeheim hatte er schreckliche Angst. Könnt ihr das verstehen? Er benahm sich frech wie Oskar. Und dabei zitterte er wie Sülze.

Am meisten fürchtete er sich vor Bernhard, weil der niemals brüllte. Die Stimme klang so kalt, als komme sie geradewegs aus dem Eisschrank. Wenn er sprach, fror man. Und Mäxchen hütete sich, ihn zu schikanieren. Zum Glück war Bernhard häufig außer Haus. Wenn er zurückkehrte, fragte Otto jedesmaclass="underline" „Was Neues?“ und Bernhard erwiderte meistens nur: „Nein.“ Oder: „Wenn’s was Neues gibt, werde ich dir’s schon erzählen.“ Oder: „Halt die Klappe!“ Oder: „Los! Geh essen! Hau ab!“

Ein einziges Mal platzte Otto Bernhard gegenüber der Kragen. Er brüllte: „Ich hab es satt, in dieser Bruchbude zu hocken und bei einem Zwerg Kindermädchen zu spielen! Wann fliegen wir endlich?“

Bernhard musterte den andern wie einen alten angeketteten Hofhund. Dann sagte er: „Wir sollen warten, bis die Polente weniger scharf kontrolliert. Das kann noch ein paar Tage dauern.“

„So ein Scheibenkleister!“ schimpfte Otto. „Wenn es nach mir ginge, säßen wir längst nicht mehr hier.“

Bernhard nickte. „Stimmt! Wenn es nach dir ginge, säßen wir längst im Zuchthaus.“

Otto süffelte sein Schnapsglas leer, stand ächzend auf und schob brummend zum Essen ab. Nun ließ sich Bernhard in dem leer gewordenen Sessel nieder und las gelangweilt Zeitung.

Nach einer Weile fragte Mäxchen und machte dazu ein unschuldiges Gesicht wie ein Gänseblümchen: „Wo soll denn unsere Reise hingehen?“

„Ich bin manchmal schwerhörig“, antwortete Bernhard, ohne die Zeitung sinken zu lassen.

„Wenn’s weiter nichts ist“, meinte der Junge. „Ich kann auch lauter!“ Und schon schrie er gellend: „Wo soll denn unsere Reise hingehen?“

Da legte Bernhard die Zeitung langsam aus der Hand. „Jetzt habe ich dich verstanden“, sagte er leise. Er war grün vor Wut. „Aber gib dir keine Mühe, du halber Zwerg. Hier hört dich keiner.“ Er griff wieder nach der Zeitung. „Trotzdem rate ich dir, dich anständig aufzuführen. Denn ich habe den Auftrag, dich lebendig abzuliefern. Lebendig und so gesund wie möglich. Dafür kriege ich sehr viel Geld. Folglich liegt mir daran, daß du nicht krank wirst oder unter meinen Absatz gerätst. Verstehst du mich?“

„Ziemlich gut“, sagte Mäxchen und gab sich Mühe, nicht mit den Zähnen zu klappern.

„Wenn du mir allerdings Scherereien machst, pfeife ich auf das Geld. Es sind schon größere Zwerge als du ganz plötzlich gestorben.“

Mäxchen bekam eine Gänsehaut.

„Drum sei ein braves Kind“, fuhr Bernhard fort, „und denk an deine kostbare Gesundheit.“ Dann schlug er die Zeitung von neuem auf und las die Sportnachrichten.