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Lehrling auf der Welt, der lernen soll, was sein Meister nicht kann!“

„Wieso? Du kannst doch alles!“

„Kann ich in einer Streichholzschachtel schlafen? Kann ich auf der Taube Minna im Zimmer herumfliegen?“

„Nein, da hast du recht! Das kannst du nicht.“

„Oder kann ich“, fragte der Professor, „aus meiner Brusttasche herausschauen? Kann ich auf die Gardinenstange klettern? Kann ich durchs Schlüsselloch kriechen?“

„Nein, das kannst du auch nicht. Herrje, was du alles nicht kannst, lieber Jokus! Das ist aber fein!“

„Ob nun fein oder nicht fein“, erklärte der Professor, „es ist, wie es ist. Du bist der Zauberlehrling, ich bin der Meister, und du sollst durch mich ein paar Sachen lernen, die ich selber nicht kann.“

An dieser Stelle wurden sie unterbrochen. Denn der Kellner kam ins Zimmer. Er brachte den Kognak und das Ananastörtchen. Dabei hätte er fast die Schaufensterpuppe über den Haufen geworfen. „Nanu!“ rief er. „Wer ist denn das?“

„Das ist der schöne Waldemar“, erklärte der Jokus. „Ein entfernter Verwandter von uns.“

„Ein sehr hübscher Mensch“, stellte der Kellner fest und zwinkerte den beiden vergnügt zu. „Hat er auch einen Familiennamen?“

„Holzkopf heißt er“, sagte der Kleine Mann mit todernstem Gesicht. „Waldemar Holzkopf.“

„In großen Hotels erlebt man allerlei“, meinte der Kellner. Dann verbeugte er sich vor der Schaufensterpuppe, wünschte: „Angenehmen Aufenthalt in Berlin, Herr Holzkopf!“ und ging wieder.

Nachdem der Professor den Kognak getrunken und Mäx-chen mit seiner winzigen silbernen Kuchengabel den zehnten Teil des Ananastörtchens vertilgt hatte, begann des Zauberlehrlings Lehrzeit.

„Du hast vorhin zugeschaut, wie ich dem Direktor Hinkel-dey heimlich ein paar Gegenstände weggenommen habe“, sagte der Professor.

„Zugeschaut habe ich schon“, erwiderte der Kleine Mann, „aber gesehen hab ich nichts. Nicht einmal das Kunststück mit der Brille. Das merkte ich erst, als du selber sie schon auf der Nase hattest.“

„Willst du wissen, wie ich es gelernt habe? Ich war ja auch einmal Lehrling und mußte lange, lange üben.“

„Wie denn?“

„An einer Puppe in einem blauen Anzug.“

„Wirklich? Und sah sie so schön aus wie Waldemar?“ „Waldemar ist schöner und blonder“, mußte der Professor zugeben. „Doch wir werden uns von seiner umwerfenden Schönheit nicht ablenken lassen. Außerdem wirst du ihn, wenn du täglich stundenlang auf ihm herumkletterst, vielleicht gar nicht mehr so schön finden.“

„Was soll ich?“ fragte Mäxchen erschrocken. „Täglich stundenlang auf ihm herumklettern?“

„Jawohl, mein Sohn. Vom Hemdkragen bis zu den Schuhsohlen und von den Sohlen bis zur Krawatte. Von oben nach unten und von unten nach oben und in alle Taschen hinein und aus allen Taschen heraus, flink wie ein Eichhörnchen und leise wie eine Ameise in Pantoffeln - nun, du wirst es schon lernen. Ihr Pichelsteiner seid ja berühmte Turner.“

„Und wozu, lieber Jokus, soll ich das alles lernen?“

„Damit du mir im Zirkus tüchtig hilfst. Ich werde den verehrten Herrschaften, die ich in die Manege bitte, noch viel mehr Dinge fortzaubern können als bisher!“

„Dann bist du und ich, nein, dann bin ich und du, nein, dann sind wir also eine Räuberbande!“

„Jawohl.“

„Du bist der Räuberhauptmann. Und was bin ich?“

„Du bist der Leutnant Unsichtbar.“

Der Kleine Mann rieb sich die Hände. Das tat er oft, wenn er sich freute. Er rief: „So könnte ein Lied anfangen!“

Und schon begann er zu singen: „Ich bin der Leutnant Unsichtbar ... und klettre auf den Waldemar.“

„Weiter?“

„Jetzt bist du an der Reihe!“

„Na schön“, sagte der Professor und sang: „Dann mach ich mit dem Jokus . im Zirkus .“

„Hokuspokus!“ schmetterte Mäxchen. „Nun noch einmal im ganzen! Aber furchtbar laut, und wir alle beide.“

Der Professor hob die Hände wie ein Dirigent beim Männerchor, gab das Zeichen zum Einsatz, und sie sangen aus voller Kehle:

„Ich bin der Leutnant Unsichtbar und klettre auf den Waldemar Dann mach ich mit dem Jokus im Zirkus Hokuspokus!“

Der Kleine Mann klatschte begeistert. „Bitte, mindestens noch drei- bis viermal! Es ist ein wunderbares Lied.“

Sie sangen, bis der Kellner klopfte, ins Zimmer trat und sich besorgt erkundigte, ob einer von ihnen krank geworden sei oder womöglich alle beide.

„Wir sind kerngesund“, rief der Kleine Mann.

„Wir sind nur albern“, meinte der Professor.

Sie sangen ihm das Lied langsam vor, und dann sang der Kellner mit.

Später kam das Stubenmädchen. Sie war noch besorgter als der Etagenkellner. Doch das ging vorbei. Zum Schluß sangen sie vierstimmig. Es klang wie ein Liederabend. Nur nicht so schön.

Abends, als er in seiner Streichholzschachtel lag, gähnte Mäxchen, dehnte sich und sagte: „Das war also der erste Tag meiner Lehrzeit.“

„Und der faulste“, fügte der Professor hinzu. „Ab morgen wird gearbeitet. Löschen Sie das Licht aus, Leutnant Unsichtbar!“

„Zu Befehl, Räuberhauptmann!“ Mäxchen knipste das Licht aus. Durchs Fenster schien der Mond. Der schöne Waldemar stand mitten im Zimmer und schlief im Stehen. Minna und Emma, die zwei Tauben, hockten einträchtig auf seinem Holzkopf. Es war nicht so bequem wie auf dem Schrank, aber es war mal was andres.

Der Professor tat seinen ersten Schnarcher. Der Kleine Mann summte leise vor sich hin: „Dann mach ich mit dem Jokus im Zirkus Hokuspokus.“ Hierüber fielen ihm die Augen zu.

DAS ACHTE KAPITEL

Der Jokus ist ein Einzelgänger /Mäxchen als Klettermäxchen / Die vertauschten Fräcke / Die drei Schwestern Marzipan / Was ist ein Trampolin? / Galoppinski zaubert zu Pferde / Jokus von Pokus will nicht auftreten.

Sie trainierten jeden Vormittag mehrere Stunden. Hinterher badete der Kleine Mann in der Seifenschale. Sie trainierten in jeder Stadt, wo der Zirkus Stilke gastierte. Wenn sie reisten, lag die Schaufensterpuppe im Gepäcknetz ihres Zugabteils, und sie gaben acht, daß Waldemar nicht hinunterfiel.

Sie fuhren nicht mit den unzähligen Zirkuswagen, die an einen oder mehrere Güterzüge angehängt werden mußten: den Wohnwagen, den Wagen mit den Pferden und den Raubtierkäfigen, den Wagen mit dem Zelt, den Kabeln für die tausend Glühlampen, den Musikinstrumenten, den Heizmaschinen, den Trapezen und Drahtseilen, den Plakaten und Schildern, den Kostümen und Teppichen und Stühlen und Treppenstufen und Bambusstangen und Kassenschaltern und Tierpflegern und Buchhalterinnen und Handwerkern und dem Handwerkszeug und dem Heu und dem Stroh und auch nicht mit dem Direktor Brausewetter, seinem Zylinder und seiner Frau, seinen vier Töchtern und zwei Söhnen und den Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern und den sieben Enkeln und den - jetzt hab ich tatsächlich den Faden verloren ... Was wollte ich eigentlich erzählen?

Ich weiß es schon wieder. Sie reisten nicht mit dem Zirkus, sondern in Schnellzügen. Und sie hausten nicht im Wohnwagen, sondern in Hotelzimmern. Der Professor war, wie er sagte, ein geborener Einzelgänger. „Ich liebe den Zirkus sehr“, meinte er. „Aber nur, wenn er voll ist. Davon abgesehen liebe ich das Leben und das schöne Wetter.“

„Und mich!“ rief Mäxchen, so laut er konnte.

„Dich“, sagte der Jokus zärtlich, „dich liebe ich noch einen Zentimeter mehr als das schöne Wetter.“

Schon nach einem halben Jahr kletterte der Kleine Mann auf dem schönen Waldemar herum wie ein Bergsteiger in den Dolomiten oder in der Sächsischen Schweiz, nur daß er nicht angeseilt war. Das war gefährlich. Denn die Schaufensterpuppe war ja für ihn so groß wie für unsereinen ein Hochhaus.