Tolpan erinnerte sich, wie Tanis den Kopf geschüttelt hatte. »Dennoch waren ihre Erhabenheit und ihre Macht groß. Sie ist immerhin eine Göttin, einer der Schöpfer der Welt. Ihre dunklen Augen starrten in meine Seele, und ich konnte nicht anders – ich sank auf die Knie und huldigte ihr...«
Und jetzt würde er, Tolpan Barfuß, die Königin kennenlernen, so wie sie auf ihrer eigenen Existenzebene war – stark und mächtig. »Vielleicht erscheint sie mir als Fünfköpfiger Drache«, sagte sich Tolpan, um sich aufzuheitern. Aber selbst diese wundervolle Aussicht half nicht, obwohl er noch niemals etwas Fünfköpfiges gesehen hatte, geschweige denn bei einem Drachen.
»Ich singe ein bißchen«, sagte er sich, nur um den Klang seiner eigenen Stimme zu hören. »Das hebt im allgemeinen meine Stimmung.«
Er begann das erste Lied zu summen, das ihm in den Sinn kam – eine Hymne an die Morgendämmerung, die Goldmond ihn gelehrt hatte. Er wollte gerade die zweite Strophe anstimmen, als er sich zu seinem Entsetzen bewußt wurde, daß dieses Lied zu ihm zurückhallte – nur waren die Worte jetzt verzerrt und furchterregend...
»Hört auf«, schrie er in das unheimliche Schweigen, das nach dem Lied einsetzte. »Ich habe es nicht so gemeint! Ich...«
Mit erschreckender Plötzlichkeit materialisierte sich der schwarzgekleidete Magier vor Tolpan, schien sich aus der düsteren Umgebung zu schälen. »Ihre Dunkle Majestät will dich jetzt sehen«, sagte er, und bevor Tolpan blinzeln konnte, fand er sich an einem anderen Ort wieder.
Er wußte, daß es ein anderer Ort war, nicht weil er sich einen Schritt bewegt hatte oder weil sich dieser Ort von dem anderen unterschied, sondern weil er spürte, daß er sich woanders befand. Hier war immer noch das gleiche unheimliche Glühen, die gleiche Leere, nur hatte er jetzt den Eindruck, nicht allein zu sein.
Als ihm das klar wurde, sah er einen schwarzen, glatten Holzstuhl erscheinen – mit dem Rücken zu ihm. Auf ihm saß eine schwarzgekleidete Gestalt; eine Kapuze war über ihr Gesicht gezogen.
Tolpan, der dachte, daß der Kleriker ihn an den falschen Ort gebracht hatte, umklammerte nervös seine Beutel und ging vorsichtig um den Stuhl herum, um das Gesicht der Gestalt zu sehen. Oder vielleicht drehte sich der Stuhl um, um sein, Tolpans, Gesicht zu sehen. Der Kender war sich nicht sicher. Aber als sich der Stuhl bewegte, wurde das Gesicht der Gestalt sichtbar.
Tolpan sah nicht einen Fünfköpfigen Drachen. Es war keine riesige Kriegerin in schwarzer, brennender Rüstung. Es war auch nicht die Schwarze Verführerin der Nacht, die Raistlin in seinen Träumen heimgesucht hatte. Es war eine Frau, völlig in Schwarz gekleidet, mit einer schwarzen, engsitzenden Kapuze über dem Haar, die ihr Gesicht einrahmte. Ihre Haut war weiß und glatt und zeitlos, ihre Augen groß und dunkel. Ihre Arme, eingehüllt in engen schwarzen Stoff, ruhten auf den Armlehnen des Stuhls, ihre weißen Hände lagen auf den Enden der Armlehnen.
Der Ausdruck ihres Gesichts war nicht entsetzlich, auch nicht beängstigend; in der Tat trug es überhaupt keinen Ausdruck. Dennoch war sich Tolpan bewußt, daß sie ihn aufmerksam musterte, in seine Seele tauchte, Teile von ihm studierte, von denen er keine Ahnung hatte, daß sie existierten.
»Ich... ich bin Tolpan Barfuß, Majestät«, sagte der Kender und streckte automatisch seine kleine Hand aus. Zu spät erkannte er seinen Fehler und wollte die Hand zurückziehen und sich verbeugen, als er die Berührung von fünf Fingern in seiner Hand spürte. Es war eine kurze Berührung, aber Tolpan hätte genauso gut in eine Handvoll Nesseln greifen können. Fünf stechende Schmerzkurven schossen durch seinen Arm und bohrten sich in sein Herz, ließen ihn aufkeuchen.
Aber so schnell, wie sie ihn berührt hatten, verschwanden sie auch wieder. Er stand auf einmal dicht bei der schönen, blassen Frau, und so mild war der Ausdruck in ihren Augen, daß Tolpan bestimmt bezweifelt hätte, daß sie die Ursache des Schmerzes war, wenn nicht das Zeichen eines fünfzackigen Sterns in seiner Handfläche gewesen wäre.
»Erzähl mir deine Geschichte!«
Schwitzend, seine Beutel nervös umklammernd, machte Tolpan Barfuß an diesem Tag Geschichte – zumindest was das Geschichtenerzählen der Kenderrasse betraf. Er erzählte die gesamte Geschichte seiner Reise nach Istar in weniger als fünf Sekunden. Und jedes Wort stimmte.
»Par-Salian hat mich zufällig mit meinem Freund Caramon in die Vergangenheit zurückgeschickt. Wir wollten Fistandantilus umbringen, mußten aber entdecken, daß es Raistlin war. Darum haben wir es nicht getan. Ich wollte die Umwälzung mit einem magischen Gerät verhindern, aber Raistlin ließ es mich zerbrechen. Ich folgte einer Klerikerin namens Crysania in ein Laboratorium unterhalb des Tempels von Istar, um Raistlin zu finden und ihn zu veranlassen, das Gerät zu reparieren. Die Decke stürzte ein, und ich wurde bewußtlos. Als ich wieder erwachte, hatten sie mich alle verlassen. Dann kam die Umwälzung, und jetzt bin ich tot und wurde in die Hölle geschickt.«
Tolpan holte zitternd Luft und wischte sein Gesicht mit dem Ende seines langen Haarzopfs ab. Dann erkannte er, daß seine letzte Bemerkung wenig schmeichelhaft war, und fügte eilig hinzu: »Nicht, daß ich mich beklagen will, Majestät! Ich bin mir sicher, wer das getan hat, muß einen guten Grund gehabt haben. Immerhin habe ich eine Kugel der Drachen zerstört, und ich glaube mich zu erinnern, daß mir jemand einmal sagte, daß ich etwas genommen hätte, was mir nicht gehöre, und... und ich war gegenüber Flint nicht so respektvoll, wie ich hätte sein sollen, vermute ich, und einmal habe ich aus Spaß Caramons Kleider versteckt, während er ein Bad genommen hat, und er mußte völlig nackt nach Solace gehen. Aber« – Tolpan konnte ein Schniefen nicht unterdrücken – »ich habe Fizban immer geholfen, seinen Hut zu finden!«
»Du bist nicht tot«, sagte die Stimme, »noch bist du hierhergeschickt worden. Du solltest überhaupt nicht hier sein.«
Bei dieser verblüffenden Enthüllung sah Tolpan direkt in die dunklen Augen der Königin. »Bin ich nicht tot?« rief er. Unwillkürlich legte er eine Hand an seinen Kopf, der immer noch schmerzte. »Damit ist das erklärt! Ich war wirklich überzeugt, daß jemand die Sache verpfuscht hat...«
»Kender sind hier nicht erlaubt«, fuhr die Stimme fort.
»Das überrascht mich nicht«, erwiderte Tolpan traurig, der sich wieder wie er selbst fühlte, da er nicht tot war. »Es gibt recht viele Orte auf Krynn, an denen Kender nicht erlaubt sind.«
Die Stimme schien nicht einmal das zu hören. »Als du das Laboratorium von Fistandantilus betreten hast, wurdest du von dem magischen Zauber beschützt, der über dem Platz lag. Das übrige Istar wurde tief unter den Erdboden versenkt, als die Umwälzung erfolgte. Aber ich war in der Lage, den Tempel des Königspriesters zu retten. Wenn ich bereit bin, werde ich auf die Welt zurückkehren, als ich selbst.«
»Aber du wirst nicht gewinnen«, sagte Tolpan, ohne nachzudenken. »Ich... weiß... es«, stotterte er, als die dunklen Augen direkt durch ihn schossen. »Ich war dabei.«
»Nein, du warst nicht dort, denn das ist noch nicht eingetreten. Verstehst du, Kender, indem du Par-Salians Zauber unterbrochen hast, hast du die Veränderung der Zeit ermöglicht. Fistandantilus – oder Raistlin, wie du ihn kennst – hat dir das gesagt. Darum hat er dich in deinen Tod geschickt – das war jedenfalls seine Absicht. Er wollte die Zeit nicht verändert haben. Die Umwälzung war für ihn notwendig, damit er diese Klerikerin Paladins in eine Zeit in der Gegenwart bringen kann, in der er die einzige wahre Klerikerin im ganzen Land hat.«
Tolpan kam es vor, als sähe er zum ersten Mal ein Aufflackern finsterer Belustigung in den Augen der Frau, und er erbebte, ohne den Grund zu verstehen.
»Wie bald wirst du schon diese Entscheidung bereuen, Fistandantilus, mein ehrgeiziger Freund! Aber es ist zu spät. Armer, kümmerlicher Sterblicher, dir ist ein Fehler unterlaufen – ein teurer Fehler. Du bist in deiner eigenen Zeitschleife gefangen. Du eilst auf deinen eigenen Untergang zu.«