Der Regen ergoß sich über Caramons bloßen Kopf, als das Pferd durch den Schlamm stapfte und ihn grob durchschüttelte. Während des ganzen Ritts konnte er vor seinem geistigen Auge nur diese dunklen, von Entsetzen erfüllten Augen sehen, die ihn hilfesuchend anflehten.
Aber Caramon wußte, daß es keine Hilfe geben würde.
10
Raistlin ging durch eine brennende Wüste. Vor ihm im Sand zeigten sich Fußstapfen, und er folgte ihnen. Die Spur führte ihn immer weiter die strahlendweißen Sanddünen auf und ab, die in der Sonne glühten. Er schwitzte und war müde und sehr durstig. Sein Kopf schmerzte, seine Brust tat weh, und er hätte sich gern hingelegt und ausgeruht. In der Ferne war ein Wasserloch, von schattigen Bäumen gekühlt. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte es nicht erreichen. Die Fußstapfen verliefen nicht in diese Richtung, und er konnte seine Füße in keine andere bewegen.
Er schleppte sich weiter, seine schwarzen Roben hingen schwer um ihn. Und dann sah er auf und erschrak. Die Fußstapfen führten zu einem Schafott! Eine schwarzgekleidete Gestalt kniete mit dem Kopf auf dem Richtblock. Obwohl er das Gesicht nicht erkennen konnte, wußte er, daß er es war, der dort kniete und gleich sterben würde. Der Scharfrichter stand über ihm, ein blutiges Beil in der Hand. Auch der Scharfrichter trug eine schwarze Kapuze, die sein Gesicht bedeckte. Er hob das Beil. Als es fiel, erhaschte Raistlin einen Blick auf das Gesicht des Scharfrichters...
»Raist!« flüsterte eine Stimme.
Der Magier schüttelte seinen schmerzenden Kopf. Mit der Stimme kam die tröstende Erkenntnis, daß er geträumt hatte. Er bekämpfte den Alptraum.
»Raist!« rief die Stimme hartnäckiger.
Ein Gefühl wirklicher Gefahr ließ den Magier vollends wach werden. Er lag noch einen Augenblick mit geschlossenen Augen still da, bis er sich seiner Umgebung bewußt wurde. Er lag auf feuchtem Boden, seine Hände waren auf seiner Brust gefesselt, sein Mund war geknebelt. Sein Kopf schmerzte, und Caramons Stimme klang in seinen Ohren.
Um sich herum hörte er das Geräusch von Stimmen und Gelächter, er konnte den Geruch eines Lagerfeuers riechen. Aber nur die Stimme seines Bruders schien aus nächster Nähe zu kommen. Und dann fiel ihm alles wieder ein. Er erinnerte sich an den Angriff, er erinnerte sich an einen Mann mit einem Eisenbein... Vorsichtig schlug er die Augen auf.
Caramon lag neben ihm bäuchlings im Schlamm, seine Arme waren mit Bogensehnen gefesselt. In den braunen Augen lag ein vertrautes Glitzern, ein Glitzern, das die Erinnerung an alte Zeiten, lang verstrichene Zeiten auslöste, als sie zusammen gekämpft hatten.
Trotz des Schmerzes und der Dunkelheit spürte Raistlin ein Frohlocken, wie er es seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte.
Durch die Gefahr vereint, verstärkte sich das Band zwischen beiden. Als Caramon sah, daß sein Bruder sich ihrer Lage völlig bewußt war, wälzte er sich so dicht wie möglich näher; seine Stimme war nicht lauter als ein Atemzug. »Hast du eine Möglichkeit, deine Hände zu befreien? Hast du noch den silbernen Dolch bei dir?«
Raistlin nickte einmal kurz. Am Anfang der Zeit hatten die Götter den Zauberkundigen das Tragen jeglicher Waffe verboten. Der vorgeschobene Grund war, daß sie ihre Zeit dem Studium widmen und nicht für die Beherrschung der Kriegskunst verschwenden sollten. Aber nachdem die Zauberkundigen Huma im Kampf gegen die Königin der Finsternis mit der Schaffung der Kugeln der Drachen unterstützt hatten, gewährten die Götter ihnen das Recht, einen Dolch bei sich zu tragen, als Andenken an Humas Lanze.
Der silberne Dolch, mit einem Lederband raffiniert an Raistlins Handgelenk gebunden, so daß er die Waffe in seine Hand gleiten lassen konnte, war seine letzte Verteidigungsmöglichkeit, die nur anzuwenden war, wenn all seine Zauber genutzt worden waren, oder in einer Situation wie dieser.
»Bist du für deine Magie stark genug?« flüsterte Caramon.
Raistlin schloß erschöpft die Augen. Ja, er war stark genug. Aber dies bedeutete eine weitere Schwächung, dies bedeutete mehr Zeit zur Erlangung der Stärke, die für die Konfrontation mit den Wächtern des Portals notwendig war. Dennoch, wenn er bis dahin nicht mehr lebte...
Natürlich, er mußte leben, dachte er bitter. Fistandantilus hatte gelebt! Er tat nichts anderes, als den Fußstapfen im Sand zu folgen.
Wütend verbannte Raistlin den Gedanken. Er schlug die Augen wieder auf und nickte. Ich bin stark genug, teilte er seinem Bruder geistig mit, und Caramon seufzte erleichtert auf.
»Raist«, flüsterte der große Mann, und sein Gesicht war plötzlich erschreckend ernst, »du... du kannst dir wohl vorstellen, was... was sie mit Crysania vorhaben.«
Raistlin hatte plötzlich eine Vision, wie der Halboger seine ungeschlachten, groben Hände auf Crysania legte, und er verspürte eine verblüffende Empfindung – Wut und Zorn, wie er sie selten erlebt hatte, ergriffen ihn.
Caramon musterte ihn verwundert, und Raistlin erkannte, daß man seine Gefühle in seinem Gesicht lesen konnte.
Caramon fuhr eilig fort: »Ich habe einen Plan.«
Raistlin nickte gereizt; er wußte, was sein Bruder vorhatte.
Caramon flüsterte: »Wenn ich versage...«
»... töte ich sie zuerst, dann mich«, beendete Raistlin den Satz. Aber natürlich würde dazu keine Notwendigkeit bestehen. Er war sicher, beschützt... Als er dann die Geräusche sich nähernder Männer hörte, schloß er die Augen und täuschte Bewußtlosigkeit vor. Dies gab ihm Zeit, seine verwirrten Gefühle zu ordnen und seine Beherrschung wiederzugewinnen. Der silberne Dolch lag kalt an seinem Arm. Er spannte die Muskeln an, die das Lederband lösen würden. Und in der Zwischenzeit grübelte er über sein Gefühl nach, das er für eine Frau empfand, die ihm völlig gleichgültig war, abgesehen von ihrer Nützlichkeit als Klerikerin natürlich.
Zwei Männer zerrten Caramon auf seine Füße und stießen ihn vorwärts. Caramon bemerkte erleichtert, daß die Männer seinem Bruder keine Aufmerksamkeit schenkten. Über den holprigen Boden stolpernd, dachte Caramon über den seltsamen Gesichtsausdruck seines Bruders nach, als er Crysania erwähnt hatte. Bei jedem anderen Mann hätte er diesen Ausdruck als typisch für einen außer sich geratenen Liebhaber angesehen. Aber sein Bruder? War Raistlin einer solchen Regung überhaupt fähig? Caramon hatte in Istar festgestellt, daß Raistlin dazu nicht fähig war, daß er vom Bösen völlig verzehrt war.
Aber jetzt wirkte sein Bruder anders, er war eher der alte Raistlin, der Bruder, mit dem er so oft Seite an Seite gekämpft hatte. Was Raistlin Caramon über Tolpan gesagt hatte, ergab einen Sinn. Immerhin hatte er den Kender nicht getötet. Und obgleich er manchmal gereizt war, ging Raistlin immer sanft mit Crysania um. Vielleicht...
Einer der Wächter stieß ihm schmerzhaft in die Rippen und erinnerte Caramon so an die Aussichtslosigkeit ihrer Situation. Vielleicht! Vielleicht würde hier und jetzt alles ein Ende nehmen.
Während er durch das Lager ging, darüber nachdenkend, was er seit dem Überfall gesehen und gehört hatte, überprüfte Caramon noch einmal seinen Plan.
Das Lager wirkte eher wie eine kleine Stadt als wie der Unterschlupf von Banditen. Sie lebten in primitiv gebauten Holzhütten und hielten ihre Tiere im Schutz einer großen Höhle. hütten und hielten ihre Tiere im Schutz einer großen Höhle. Sie waren offensichtlich schon längere Zeit hier und fürchteten kein Gesetz – angesichts der Stärke und der Führungsqualitäten des Halbogers Stahlfuß.
Aber Caramon, der mehr als einige Zusammenstöße mit Dieben erlebt hatte, sah auch, daß viele Männer keine rüpelhaften Grobiane waren. Er hatte viele gesehen, die Crysania einen Blick zugeworfen und den Kopf im offensichtlichen Ekel vor dem, was geschehen sollte, geschüttelt hatten. Obgleich mit Fetzen bekleidet, trugen viele gute Waffen, Stahlschwerter von der Art, die vom Vater zum Sohn weitergereicht werden, und sie gingen mit diesen Waffen mit einer Sorgfalt um, wie man sie nur bei einem Familienerbstück anwendet und nicht bei einer Beute. Und obgleich er sich im schwachen Licht des stürmischen Tages nicht sicher war, glaubte er, auf vielen Schwertern die Rose und den Eisvogel gesehen zu haben, die uralten Symbole der solamnischen Ritter.