Caramon riß die Augen auf. »Thorbadin angreifen?«
»Ich erkläre es dir später«, fauchte Raistlin. »Mach, was ich gesagt habe.«
Caramon zögerte.
Raistlin zuckte die Schultern und lächelte unangenehm. »Es ist dein einziger Weg nach Hause, mein Bruder! Und vielleicht dein einziger Weg, hier lebend herauszukommen.«
Caramon sah sich um. Die Männer hatten während dieses kurzen Wortwechsels wieder zu murren angefangen, offensichtlich argwöhnisch über ihre Absichten. Er begriff, daß er schnell eine Entscheidung treffen mußte oder vielleicht einem Angriff gegenüberstand. »Wir ziehen in den Süden«, sagte er, »das stimmt. Aber aus unseren Gründen. Was sagt ihr da von einem Schatz in Thorbadin?«
»Es heißt, daß die Zwerge riesige Schätze unter dem Gebirge angehäuft haben«, antwortete der junge Mann bereitwillig. Die anderen nickten.
»Schätze, die sie von Menschen gestohlen haben«, fügte einer hinzu.
»Nicht nur Geld«, schrie ein dritter, »sondern auch Getreide und Rinder und Schafe! In diesem Winter speisen sie wie Könige, während unsere Bäuche leer ausgehen!«
»Wir hatten zuvor darüber geredet, in den Süden zu ziehen, um unseren Anteil zu nehmen«, fuhr der junge Mann fort, »aber Stahlfuß sagte, wir hätten hier genug. Es gibt unter uns einige, die es sich reiflich überlegen.«
Caramon wünschte, größere Geschichtskenntnisse zu haben. Er hatte natürlich von den Großen Zwergentorkriegen gehört. Sein alter Zwergenfreund Flint hatte kaum über anderes geredet. Flint war ein Hügelzwerg gewesen. Er hatte Caramon mit Geschichten von der Grausamkeit der Bergzwerge in Thorbadin überhäuft, die im großen und ganzen mit dem, was die Männer hier sagten, übereinstimmten. Aber Flint hatte ihm gesagt, daß die Schätze, die die Bergzwerge gestohlen hatten, von ihren Verwandten, den Hügelzwergen, stammten.
Wenn das zutraf, hatte Caramon die Rechtfertigung für seine Entscheidung. Er konnte natürlich auch seinem Bruder gehorchen. Aber ein Teil in Caramon war in Istar zerbrochen. Obgleich er dachte, seinen Bruder falsch beurteilt zu haben, wußte er nur allzu gut, daß er ihm trotzdem weiterhin mißtrauen mußte. Niemals wieder würde er Raistlin blind gehorchen.
Aber dann spürte er Raistlins glitzernde Augen auf sich, und er hörte die Stimme seines Bruders in seinem Geist widerhallen. »Dein einziger Weg zurück nach Hause!«
Caramon ballte im plötzlichen Zorn die Hände, aber Raistlin hatte ihn in der Hand, das wußte er. »Wir ziehen in den Süden, nach Thorbadin«, sagte er barsch; sein beunruhigter Blick war auf das Schwert in seiner Hand gerichtet. Dann hob er den Kopf, um die Männer anzusehen. »Werdet ihr mit uns kommen?«
Viele Männer traten vor, um mit dem jungen Edelmann zu reden, der offensichtlich ihr Sprecher war. Er hörte zu, nickte, dann wandte er sich wieder zu Caramon. »Wir würden dir ohne zu zögern folgen, großer Krieger«, sagte der junge Mann, »aber was hast du mit diesem schwarzgekleideten Zauberer zu tun? Wer ist er, daß wir ihm folgen sollen?«
»Mein Name ist Raistlin«, erwiderte der Magier. »Dieser Mann ist mein Leibwächter.«
Niemand antwortete, nur unschlüssige Blicke wurden ausgetauscht.
»Ich bin sein Leibwächter, das ist wahr«, sagte Caramon ruhig, »aber der richtige Name des Magiers ist Fistandantilus.«
Jetzt wurden die finsteren Blicke respektvoll, ja ängstlich.
»Ich heiße Garik«, sagte der junge Mann und verbeugte sich vor dem Erzmagier in der altmodischen Weise der Ritter von Solamnia. »Wir haben von dir gehört, Großer. Wir werden dir folgen und dem großen Krieger, der bei dir ist.« Er trat vor und legte sein Schwert vor Caramon nieder.
Andere schlossen sich ihm an, einige eifrig, andere vorsichtiger. Einige wenige stahlen sich fort. Sie als feige Raufbolde durchschauend, ließ Caramon sie laufen.
Über dreißig Männer blieben bei ihm. Einige hatten das gleiche adlige Auftreten wie Garik, aber die meisten waren zerlumpte Halunken.
»Meine Armee«, sagte sich Caramon mit einem bitteren Lächeln in jener Nacht, als er seine Decke in der Hütte von Stahlfuß ausbreitete, die der Halboger für seinen persönlichen Gebrauch gebaut hatte. Draußen vor der Tür hörte er Garik mit einem anderen Mann reden, den Caramon, da er ihm halbwegs vertrauenswürdig vorkam, zum Wächter bestimmt hatte.
Da Caramon völlig erschöpft war, hatte er angenommen, sofort einschlafen zu können. Aber er lag hellwach in der Dunkelheit, dachte nach und schmiedete Pläne. Wie alle jungen Soldaten hatte er oft davon geträumt, Offizier zu werden. Jetzt hatte er seine Chance erhalten. Zum erstenmal in dieser von den Göttern verlassenen Zeit empfand er etwas wie Freude.
In seinem Kopf überschlugen sich die Pläne. Ausbildung, die besten in den Süden führenden Routen, Vorräte, Nachschub, dies waren für den ehemaligen Söldner neue und schwierige Probleme. Selbst im Krieg der Lanze war er immer Tanis’ Führung gefolgt. Sein Bruder wußte nichts von diesen Dingen; Raistlin hatte Caramon kühl informiert, daß er auf sich selbst gestellt sei. Dies waren konkrete Probleme, und sie vertrieben die Probleme, die er mit seinem Bruder hatte.
Caramon sah zu Raistlin hin, der in der Nähe eines Feuers lag, das in einem riesigen Steinkamin loderte. Trotz der Wärme war er in seinen Umhang und in alle Decken gehüllt, die Crysania auftreiben konnte. Caramon konnte den Atem seines Bruders hören, der in seinen Lungen rasselte; gelegentlich hustete er im Schlaf.
Crysania schlief auf der anderen Seite des Feuers. Trotz ihrer Erschöpfung war ihr Schlaf unruhig. Mehr als einmal schrie sie auf. Caramon seufzte. Er hätte sie gern getröstet, sie in seine Arme genommen und sie besänftigt. Zum ersten Mal wurde ihm klar, wie gern er das täte. Vielleicht lag es daran, daß er den Männern gesagt hatte, daß sie ihm gehöre, vielleicht daran, daß er die Hände des Halbogers auf ihr gesehen und die gleiche Entrüstung empfunden hatte wie sein Bruder.
Caramon ertappte sich dabei, daß er sie an diesem Abend ganz anders sah, als er sie zuvor gesehen hatte, Gedanken hegend, die seinen Puls schneller werden ließen. Er schloß die Augen und zwang sich, an Tika, seine Frau, zu denken. Aber er hatte diese Erinnerung schon so lange verbannt, daß sie unbefriedigend war. Tika war ein verschwommenes, nebelhaftes Bild und weit entfernt. Crysania war Fleisch und Blut und hier! Er nahm ihren ruhigen, gleichmäßigen Atem intensiv wahr...
Diese Frauen! Verärgert warf sich Caramon auf den Bauch, entschlossen, alle Gedanken an Frauen unter den Teppich zu seinen anderen Problemen zu kehren. Es funktionierte. Erschöpfung legte sich schließlich über ihn.
Als er in den Schlaf sank, hatte er nur noch einen beunruhigenden Gedanken, der im hinteren Teil seines Geistes schwebte. Es handelte sich um einen Blick, den seltsamen Blick, den Raistlin ihm zugeworfen hatte, als Caramon den Namen Fistandantilus ausgesprochen hatte.
Es war kein Blick der Wut oder Verärgerung gewesen, wie Caramon erwartet hätte. Das letzte, was Caramon sah, bevor der Schlaf seine Gedanken auslöschte, war Raistlins Blick nackten Entsetzens.
Die Armee des Fistandantilus
Als die Gruppe der Männer unter Caramons Kommando in den Süden zu dem großen Zwergenkönig Thorbadin zog, wuchsen ihr Ruhm und ihre Anzahl. Seit langer Zeit war der sagenhafte »Schatz unter dem Gebirge« bei den notleidenden und hungernden Menschen Solamnias eine Legende. In jenem Sommer war der größte Teil des Getreides auf den Feldern verkümmert und verfault. Furchtbare Krankheiten gingen um, gefürchteter und tödlicher als die blutrünstigen Banden von Goblins und Ogern, die vom Hunger aus ihren uralten Heimatgebieten getrieben wurden.
Obwohl es noch Herbst war, lag die Eiseskälte des nahenden Winters in der Nachtluft. Angesichts der düsteren Zukunft waren die solamnischen Männer und Frauen überzeugt, daß sie nichts zu verlieren hätten. Sie packten also ihre Habseligkeiten zusammen, um sich der Armee anzuschließen und in den Süden zu ziehen.