Caramon, der sich um die Ernährung von dreißig Männern sorgte, war plötzlich für einige hundert Männer und ihre Frauen und Kinder verantwortlich. Und tagtäglich stießen neue zum Lager. Einige waren Ritter; ihre adelige Herkunft war trotz ihrer Fetzen sichtbar. Andere waren Bauern, die die Schwerter, die Caramon ihnen gab, so hielten, wie sie wohl auch ihre Hacken gehalten hatten. Aber auch sie legten eine grimmige Würde an den Tag. Nachdem sie jahrelang Hunger und Armut hilflos hatten gegenüberstehen müssen, war es ein belebender Gedanke für sie, sich auf einen Feind vorzubereiten, der getötet und besiegt werden konnte. So war Caramon der General der »Armee des Fistandantilus« geworden.
Sein größtes Problem war die Versorgung der riesigen Zahl Männer und ihrer Familien. Er schickte geübte Jäger in weitentlegene Gebiete, um Wild zu erlegen. Das nicht sofort verzehrte Fleisch wurde von den Frauen geräuchert und getrocknet, so daß es gelagert werden konnte.
Viele, die zu ihnen stießen, brachten Korn und Früchte mit. Diese Nahrungsmittel verteilte Caramon. Das Korn wurde zu Mehl verarbeitet und zu steinhartem, aber lebenerhaltendem Brot gebacken, von dem sich die Armee monatelang ernähren konnte. Selbst die Kinder wurden mit Aufgaben betraut: Kleinwild mit Schlingen fangen, fischen, Wasser holen, Holz hacken.
Dann mußte er sich um die Ausbildung seiner unerfahrenen Soldaten kümmern, sie im Umgang mit Speer und Bogen, Schwert und Schild schulen.
Und während sich die Armee unbarmherzig in den Süden bewegte, verbreitete sich überall die Nachricht ihres Kommens...
11
Pax Tarkas, anfangs ein Monument des Friedens, war ein Symbol des Krieges geworden.
Die Geschichte der gigantischen Festung Pax Tarkas hat ihre Wurzeln in einer Legende, der Geschichte einer zugrunde gegangenen Zwergenrasse, bekannt als die Kal-Tax.
Vor dem Zeitalter der Träume war das Zeitalter der Dämmerung, in dem die Geschichte der Welt in die Nebel ihrer Anfänge eingehüllt ist. Zu jener Zeit lebte in den großen Hallen von Thorbadin eine Zwergenrasse, deren Steinarbeit so vollkommen war, daß der Gott Reorx, der Schmied der Welt, auf sie blickte und staunte. In seiner Weisheit erkannte er, daß das Leben keine Ziele und Bestrebungen mehr bieten würde, nach denen die Sterblichen trachten könnten, wenn sie diese Vollkommenheit erlangt hätten. Reorx nahm also die gesamte Rasse der Kal-Tax zu sich und ließ sie in der Nähe seiner himmlischen Schmiede leben.
Nur wenige Beispiele des uralten Könnens der Kal-Tax blieben erhalten. Diese werden im Zwergenkönigreich Thorbadin aufbewahrt und über alle anderen Dinge geschätzt. Nach der Zeit der Kal-Tax galt das lebenslange Streben eines jeden Zwergs, diese Vollkommenheit in der Steinarbeit zu erreichen, damit auch er von Reorx aufgenommen wurde.
Im Lauf der Zeit wurde dieses achtbare Ziel jedoch zur Besessenheit. Nur noch an Stein denkend und von ihm träumend, wurde das Leben der Zwerge genauso unbeweglich und unveränderlich wie das Medium ihrer Kunst. Sie vergruben sich tief in ihre uralten Hallen unter dem Gebirge und hielten sich von der Außenwelt fern.
Die Zeit verging und brachte die tragischen Kriege zwischen Elfen und Menschen mit sich. Sie endeten mit der Unterzeichnung der Schriftrolle der Schwertscheide und der Selbstverbannung Kit-Kanans und seiner Anhänger aus der uralten Elfenheimat Silvanesti. Gemäß den Vertragsbedingungen der Schriftrolle der Schwertscheide wurde den Qualinesti – was »befreites Volk« bedeutet – das Gebiet westlich von Thorbadin als neue Heimat überlassen.
Damit waren sowohl die Menschen als auch die Elfen einverstanden. Unglücklicherweise machte sich niemand die Mühe, die Zwerge zu befragen. Den Zustrom der Elfen als Bedrohung ihrer Lebensweise unter dem Gebirge betrachtend, griffen die Zwerge an. Kit-Kanan fand zu seinem Kummer, daß er von einem Krieg weggegangen war, nur um in einen anderen verwickelt zu werden.
Nach vielen Jahren gelang es dem klugen Elfenkönig, die dickköpfigen Zwerge zu überzeugen, daß die Elfen kein Interesse an ihrem Stein hegten. Sie wollten nur die lebendige Schönheit ihrer Wildnis. Obgleich diese Liebe zu etwas Wechselhaftem und Wildem den Zwergen völlig unbegreiflich war, akzeptierten sie sie schließlich. Die Elfen wurden nicht mehr als Feinde betrachtet.
Zu Ehren dieser Übereinkunft wurde Pax Tarkas gebaut. Die Festung, die den Gebirgspaß zwischen Qualinesti und Thorbadin bewacht, wurde als Monument der Unterschiede geweiht – ein Symbol der Eintracht und der Verschiedenheit.
In jenen Zeiten vor der Umwälzung hatten Elfen und Zwerge gemeinsam die Zinnen der mächtigen Festung bemannt. Aber jetzt hielten allein die Zwerge Wache auf den zwei hohen Türmen. Denn die böse Zeit hatte wieder zu einer Spaltung zwischen den Rassen geführt.
Die Elfen verließen Pax Tarkas und zogen sich in ihre Waldheimat Qualinesti zurück. Geborgen inmitten ihrer Wälder, schlossen sie ihre Grenzen. Unbefugte – ob Mensch oder Goblin, Zwerg oder Oger – wurden unverzüglich getötet.
Dunkan, König von Thorbadin, dachte darüber nach, während er die Sonne beobachtete, die hinter den Bergen versank. Er hatte eine plötzliche Vision von den Elfen, die die Sonne angriffen, da diese in ihr Land eingedrungen war, und er schnaubte verächtlich. Nun, sie hatten gute Gründe, verrückt zu sein, sagte er sich, und die Welt auszusperren. Was machte die Welt auch mit ihnen?
Sie war in ihre Gebiete eingefallen, hatte ihre Frauen vergewaltigt, ihre Kinder ermordet, ihre Häuser angezündet, ihre Nahrung geraubt. Und waren es Goblins oder Oger, hervorgebracht von dem Bösen? Nein! Dunkan brummte grimmig in seinen Bart. Es waren jene, denen sie vertraut hatten, jene, die sie als Freunde begrüßt hatten – Menschen.
Und jetzt sind wir an der Reihe, dachte Dunkan und schritt an den Zinnen vorbei, ein Auge auf den Sonnenuntergang gerichtet, der den Himmel in Blut tauchte. Jetzt sind wir an der Reihe, unsere Türen zu verschließen und uns von der Welt zu lösen!
In seine Gedanken verloren, nahm Dunkan nur allmählich die andere Person wahr, die sich zu ihm gesellt hatte; eisenbeschuhte Schritte hielten Takt mit seinen. Der andere Zwerg überragte seinen König um Haupteslänge, und mit seinen langen Beinen konnte er zweimal so schnell gehen wie dieser. Aber er hatte aus Respekt seinen Schritt verlangsamt und sich dem seines Monarchen angepaßt.
Dunkans Blick verdunkelte sich vor Unbehagen. Zu jeder anderen Zeit wäre ihm die Gesellschaft dieser Person willkommen gewesen. Jetzt erschien sie ihm wie ein böses Omen. Sie warf einen Schatten über seine Gedanken, so wie die untergehende Sonne die eisigen Berggipfel veranlaßte, ihre Schatten auf Pax Tarkas auszustrecken.
»Sie werden unsere westliche Grenze gut bewachen«, sagte Dunkan in der Absicht, eine Unterhaltung zu eröffnen; sein Blick ruhte auf den Grenzen von Qualinesti.
»Sicher«, antwortete der andere Zwerg, und Dunkan warf ihm einen scharfen Blick zu. Obgleich der größere Zwerg seinem König zugestimmt hatte, lag eine Kühle im Tonfall des Zwergs, die auf sein Mißfallen hindeutete.
Verärgert aufschnaufend, wirbelte Dunkan herum, steuerte in eine andere Richtung und hatte die Befriedigung, den anderen Zwerg überrumpelt zu haben. Aber der größere Zwerg blieb einfach stehen und starrte traurig über die Zinnen von Pax Tarkas in das nun schattige Elfenland, anstatt sich umzudrehen und seinen König einzuholen.
In seiner Verärgerung erwog Dunkan zuerst, einfach ohne seinen Begleiter weiterzugehen, dann blieb er stehen, um dem größeren Zwerg Zeit zum Aufholen zu geben. Jedoch rührte sich dieser nicht, und aufgebracht drehte sich Dunkan schließlich um und stapfte zurück.
»Beim Barte Reorx’, Kharas«, knurrte er, »was ist los?«
»Ich finde, du solltest dich mit Feuerschmied treffen«, erwiderte Kharas langsam. Seine Augen waren auf den Himmel gerichtet, der sich nun purpurrot verdunkelte.
»Ich habe ihm nichts zu sagen«, erwiderte Dunkan.
Kharas strich über die silbernen Locken seines langen, sich kräuselnden Bartes, der im Licht der Fackeln glänzte, die an den Mauern hingen. Er wollte gerade etwas erwidern, als sich die Luft mit Lärm füllte, dem Dröhnen von Stiefeln, dem Ertönen von Stimmen, dem Aufschlagen von Äxten gegen Stahclass="underline" die Wachablösung. Hauptleute schrien Befehle, Männer verließen ihre Stellungen, andere nahmen sie ein.