»Welchen Grund haben dann die ehrlichen Männer, zu dem modernden, alten Grab zurückzukehren, wenn nicht als Leichenfledderer?« fragte Dunkan und lehnte sich selbstzufrieden zurück.
Anerkennendes Gemurmel kam von den Bergzwergen, die einstimmig entschieden, daß ihr Lehnsherr einen Punkt gewonnen habe.
Regar wurde rot vor Ärger. »Ist der Mann, der sich zurückholt, was ihm gestohlen wurde, ein Dieb?« verlangte er zu wissen.
»Ich verstehe den Punkt dieser Frage nicht«, erwiderte Dunkan aalglatt, »da ihr nichts vom Wert habt, was jemand stehlen wollte. Es heißt, daß selbst die Kender euer Land meiden.«
Die Bergzwerge lachten zustimmend, während sich die Hügelzwerge vor Zorn schüttelten – das war eine tödliche Beleidigung.
Kharas seufzte.
»Ich erzähle dir etwas über das Stehlen!« knurrte Regar; sein Bart zitterte vor Zorn. »Verträge – die hast du gestohlen! Hast uns unterboten, um uns das Brot aus dem Mund zu nehmen! Und es gab Überfälle in unseren Gebieten – bei denen unser Korn und unser Vieh gestohlen wurden! Wir haben die Geschichte eurer Reichtümer gehört, die ihr angehäuft habt, und wir sind gekommen, um sie als unsere rechtmäßigen in Anspruch zu nehmen! Nicht mehr, nicht weniger!«
»Lügen!« brüllte Dunkan und sprang vor Wut auf die Füße. »Alles Lügen! Den Reichtum, der unten im Gebirge liegt, haben wir mit ehrlichem Schweiß erarbeitet! Und ihr kommt wie verwöhnte Kinder zurück, winselnd, daß eure Bäuche leer sind, nachdem ihr die Tage mit Zechereien verschwendet habt, wenn ihr hättet arbeiten sollen!« Er machte eine beleidigende Geste. »Ihr seht sogar wie Bettler aus!«
»Bettler, was?« brüllte Regar seinerseits. Sein Gesicht war zu einem tiefen Purpurrot angelaufen. »Nein, beim Barte Reorx’! Wenn ich am Verhungern wäre und du mir eine Kruste Brot reichen würdest, würde ich auf deine Schuhe spucken! Streite ab, daß du diesen Ort befestigst, praktisch an unseren Grenzen! Streite ab, daß du die Elfen gegen uns aufgehetzt und veranlaßt hast, ihre Handelsbeziehungen mit uns abzubrechen! Bettler? Nein! Beim Barte Reorx’, bei seiner Schmiede und bei seinem Hammer, wir kommen zurück, aber dann als Eroberer! Wir werden uns nehmen, was uns rechtmäßig zusteht, und erteilen euch obendrein eine Lektion!«
»Ihr werdet kommen, ihr wehleidigen Feiglinge«, Dunkan schnaufte verächtlich, »hinter den Falten eines schwarzgekleideten Zauberers und den Schilden menschlicher Krieger versteckt, gierig auf Beute! Sie werden euch in den Rücken stechen und dann eure Leichen ausrauben!«
»Wer sollte besser über das Ausrauben von Leichen Bescheid wissen als du?« schrie Regar. »Du hast unsere jahrelang ausgeraubt!«
Die sechs Sippenmitglieder sprangen von ihren Stühlen auf, und Regars Eskorte sprang nach vorn. Das schrille Gelächter des Dewars erhob sich über die Schreie und Drohungen. Der Großgug kauerte mit weit geöffnetem Mund in seiner Ecke.
Wäre Kharas nicht zwischen beide Seiten gegangen, mit seiner großen Gestalt alle überragend, wäre der Krieg sofort an Ort und Stelle ausgebrochen. Stoßend und schiebend zwang er beide Parteien zurück. Aber auch als sie getrennt waren, ließen sie von höhnischen Rufen und von Beleidigungen nicht ab. Nach einem strengen Blick von Kharas hörte dies bald auf, und alle verfielen in ein dumpfes, mürrisches Schweigen.
Kharas sprach, und seine tiefe Stimme war schroff und von Traurigkeit erfüllt. »Vor langer Zeit betete ich zu dem Gott, mir Stärke zu verleihen, damit ich gegen Ungerechtigkeit und das Böse auf der Welt kämpfen könne. Reorx erhörte mein Gebet, indem er mir seine Schmiede überließ, und dort über dem Schmiedefeuer des Gottes stellte ich diesen Hammer her. Seitdem glänzt er in der Schlacht, bekämpft das Böse und beschützt meine Heimat, die Heimat meines Volkes. Und jetzt, mein König, würdest du mich bitten, gegen meine Verwandten in den Krieg zu treten? Und ihr, meine Verwandten, würdet ihr Krieg in unser Land tragen? Soll ich diesen Hammer gegen mein eigenes Blut verwenden?«
Niemand antwortete. Alle funkelten einander unter wirren Augenbrauen an, alle schienen beschämt zu sein. Kharas’ aufrichtige Rede hatte viele gerührt. Nur zwei hörten sie ungerührt an. Beide waren alte Männer, beide hatten vor langer Zeit jede Illusion über die Welt verloren, beide wußten, daß die Kluft zu breit geworden war, als daß sie mit Worten hätte überbrückt werden können. Aber eine Geste mußte geschehen.
»Hier ist mein Angebot, Dunkan, König von Thorbadin«, sagte Regar schwer atmend. »Ziehe deine Männer aus dieser Festung zurück. Gib Pax Tarkas und seine Umgebung uns und unseren menschlichen Verbündeten. Gib uns die Hälfte des Schatzes, der unter dem Gebirge liegt – die Hälfte gehört rechtmäßig uns —, und erlaube jenen von uns, die sich für die Sicherheit des Gebirges entscheiden, zurückzukehren, wenn das Böse in diesem Land größer wird. Als Gegenleistung werden wir in Thorbadin Landwirtschaft betreiben und unsere Ernteerträge billig verkaufen. Wir werden helfen, eure Grenzen zu beschützen, wenn sich die Notwendigkeit ergibt.«
Kharas warf seinem König einen flehenden Blick zu, bettelte, das Angebot in Erwägung zu ziehen.
Aber es schien, daß Dunkan sich jenseits jeglicher Vernunft befand. »Verschwindet!« knurrte er. »Kehrt zu eurem schwarzgekleideten Zauberer zurück! Kehrt zu euren menschlichen Freunden zurück! Laßt uns sehen, ob euer Zauberer mächtig genug ist, die Mauern dieser Festung niederzureißen oder die Steine unseres Gebirges zu entwurzeln. Laßt uns sehen, wie lange eure menschlichen Freunde Freunde bleiben, wenn der Winterwind um die Lagerfeuer wirbelt und ihr Blut in den Schnee tropft.«
Regar warf Dunkan einen letzten Blick zu, der dermaßen haßerfüllt war, daß er hätte töten können, wenn es möglich gewesen wäre. Dann drehte er sich auf den Absatz um und winkte seinen Begleitern zu. Sie schritten aus der Halle der Lehnsmänner und aus Pax Tarkas.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Als die Hügelzwerge zum Aufbruch bereit waren, hatten die Bergzwerge bereits die Zinnen besetzt und schrien und johlten ihnen höhnisch zu. Regar und seine Eskorte ritten mit grimmigen Gesichtern davon und ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Kharas stand unterdessen allein mit seinem König und dem vergessenen Großgug in der Halle der Lehnsmänner. Die sechs Zeugen waren zu ihren Lehnsherren zurückgekehrt, um die Neuigkeiten zu berichten. Fässer voll Biers und des starken Getränks, das als Zwergenspiritus bekannt war, wurden in jener Nacht angestochen. Gesang und rauhes Gelächter konnten bereits jetzt durch das riesige Steinmonument des Friedens gehört werden.
»Was wäre daran schlimm gewesen, zu verhandeln?« fragte Kharas mit kummervoller Stimme den König.
Dunkan, dessen Zorn verraucht war, sah den größeren Zwerg an und schüttelte den Kopf. Es war sein Recht, eine Antwort auf diese unverschämte Frage zu verweigern. In der Tat hätte niemand sonst als Kharas den Mut gehabt, Dunkans Entscheidung in Frage zu stellen.
»Kharas«, sagte Dunkan und legte die Hand auf den Arm seines Freundes, »sag, haben wir einen Schatz unter dem Gebirge? Haben wir unsere Verwandten ausgeraubt? Haben wir ihr Land überfallen oder das Land der Menschen? Sind ihre Anschuldigungen gerechtfertigt?«
»Nein«, antwortete Kharas.
Dunkan seufzte. »Du hast die Ernte gesehen. Du weißt, daß das wenige Geld in der Schatztruhe ausgegeben werden muß, damit wir den Winter überstehen.«
»Sag ihnen das doch!« riet Kharas aufrichtig. »Sag ihnen die Wahrheit! Sie sind keine Monster! Es sind unsere Verwandten, sie werden verstehen...«
Dunkan lächelte traurig. »Nein, sie sind keine Monster. Aber, und das ist viel schlimmer, sie sind wie Kinder geworden.« Er zuckte die Schultern. »Oh, wir könnten ihnen die Wahrheit sagen – es ihnen auch zeigen. Aber sie würden uns nicht glauben. Sie würden ihren eigenen Augen nicht glauben. Und warum? Weil sie es anders herum glauben wollen!«
Kharas runzelte die Stirn, aber Dunkan fuhr geduldig fort: »Sie wollen glauben, mein Freund. Mehr als das, sie müssen sogar glauben. Das ist ihre einzige Hoffnung. Sie haben nichts außer dieser Hoffnung. Und folglich sind sie bereit, dafür zu kämpfen. Ich verstehe sie.« Die Augen des alten Königs trübten sich, und Kharas, der ihn verblüfft anstarrte, erkannte, daß sein Zorn nur vorgetäuscht worden war.