»Vivana«, begrüßte Madalin sie lächelnd. Der hochgewachsene Manusch trug sein rotes Kopftuch, was ihn verwegen erscheinen ließ, obwohl er einer der gelassensten und sanftesten Menschen war, die sie kannte. »Wir haben uns schon gefragt, wo du steckst.«
»Tut mir leid. Wobei soll ich euch helfen?«
»Du kannst dich später um die Pferde kümmern. Andulin lahmt. Vielleicht bringst du ihn zu Farkas, damit er ihn sich ansieht. Aber das hat Zeit. Jetzt setz dich erst einmal zu uns und iss etwas. Ich habe Suppe auf dem Feuer.«
Vivana war nicht nach Gesellschaft zumute. »Wo ist Tante Livia?«
»In ihrem Wagen.«
Ruac regte sich auf ihren Schultern, als sie in den Schatten des Sonnensegels trat. Er liebte Hitze und wollte offenbar in der Sonne bleiben. Vivana setzte ihn auf das warme Kopfsteinpflaster, wo sich der Tatzelwurm zusammenrollte und die Schnauze unter die Schwanzspitze schob.
Sie öffnete die Tür von Tante Livias Wagen und kletterte hinein.
Der Duft von glimmendem Sandelholz empfing sie, und wegen der zugezogenen Vorhänge herrschte ein schattiges Zwielicht im Innern des Wagens. Ihr war, als betrete sie einen verzauberten Ort fern vom Lärm und Gestank Bradosts. Ein halbes Dutzend alter Folianten stand auf einem kleinen Regal. Zedernholztruhen enthielten Tränke und Talismane aus Kupfer. Kräuter trockneten an Schnüren unter der Decke.
Tante Livia saß an einem Tischchen, die üppigen rotbraunen Locken mit einem Tuch zurückgebunden. Sie warf Knochen in eine silberne Schale.
»Setz dich«, sagte sie, ohne von den Knochen aufzusehen.
Vivana nahm auf einem dreibeinigen Hocker Platz. »Was siehst du?«
Ihre Tante wirkte beunruhigt. »Die Zeichen sind nicht eindeutig. Etwas geschieht in der Schattenwelt.«
Vivana betrachtete die Knochen in der Schale und wünschte, sie wäre in der Lage, ihre Geheimnisse zu erkennen. »Etwas, das dir Angst macht?«
»Kannst du dich noch daran erinnern, wie der Phönix verschwunden ist?«
»Natürlich.« Vivana würde diesen Tag nie vergessen.
»Etwas Ähnliches ist wieder passiert.«
»Ein Schattenwesen hat die Welt verlassen?«
»Nicht nur eines. Viele.«
»Aber Schattenwesen verschwinden jeden Tag.«
»Nicht in diesem Ausmaß. Etwas ist diesmal anders. Aber Genaueres kann ich noch nicht sagen. Ich muss mich mit anderen Wahrsagern beraten.«
Vivana hatte ihre Tante schon lange nicht mehr so nachdenklich erlebt. »Zeig mir die Kunst des Knochenorakels«, sagte sie. »Dann kann ich dir helfen.«
»Du kennst doch meine Meinung dazu.«
Livia war der Ansicht, sie sei noch zu jung für die geheimen Künste der Manusch, dabei wusste Vivana mit ihren sechzehn Jahren mehr über die Schattenwelt als die meisten Bewohner Bradosts. »Ich bin alt genug«, gab sie zurück.
»Überlass es mir, das einzuschätzen.« Livia steckte die Knochen in einen Lederbeutel, den sie zusammen mit der Silberschale in eine Kiste legte.
Vivana seufzte. Es war zwecklos, mit ihrer Tante darüber zu reden. Sie stand auf und betrachtete die Bücher auf dem Bord, deren Lederrücken mit unverständlichen Schriftzeichen versehen waren.
»Was suchst du?«, erkundigte sich Livia.
»Hast du schon einmal etwas vom Gelben Buch von Yaro D’ar gehört?«
»Wieso fragst du?«
»Mein Vater hat davon gesprochen.«
»Dein Vater? Seit wann interessiert er sich für solche Dinge?«
Vivana zuckte mit den Schultern. Sie schlug eines der Bücher auf und blätterte darin, allerdings konnte sie den Text nicht lesen. Zwar beherrschte sie die Sprache der Manusch einigermaßen, die Schrift jedoch hatte sie nie gelernt.
»Sei vorsichtig damit«, sagte Livia. »Das Buch ist sehr alt.«
»Kennst du dieses Buch nun oder nicht?«
»Es ist sehr selten. Ich kenne niemanden, der es je gesehen hat. Manche bezweifeln gar, dass es überhaupt existiert.«
»Wovon handelt es?«
»Man sagt, es enthalte alte Zaubersprüche. Magische Rituale des Südens, die vor langer Zeit in Vergessenheit geraten sind.«
Dass sich ihr Vater, ein verbissener Verfechter von Wissenschaft und Vernunft, mit Zauberei beschäftigte, war in der Tat erstaunlich. Und was hatte Liam Hugnall, oder wie immer er hieß, damit zu tun? »Glaubst du, Lady Sarka besitzt ein Exemplar?«
»Möglich. Viele Alchymisten studieren die alten Künste. In welchem Zusammenhang hat dein Vater das Buch erwähnt?«
»Das weiß ich nicht so genau.«
Livia hob eine Augenbraue. »Du hast ihn wieder belauscht, richtig?«
Mit gerunzelter Stirn stellte Vivana das Buch zurück. »Was bleibt mir schon anderes übrig? Er erzählt mir ja nichts.«
»Wieso machst du so ein Gesicht? Habt ihr euch gestritten?«
»Er wollte mir verbieten herzukommen.«
Livia wurde ernst. »Weswegen diesmal?«
»Ich sollte zu Hause bleiben, damit ich meinen neuen Hauslehrer kennenlerne.«
»Du brauchst keinen Hauslehrer. Bei uns lernst du alles, was eine Manusch wissen muss.«
Vivana hätte sich denken können, dass ihre Tante wieder damit anfing. Hätte sie ihren Vater besser nicht erwähnt. »Ich bin keine Manusch«, erwiderte sie.
»Doch, das bist du. Egal, was dein Vater sagt.«
»Ich kann nicht einmal richtig eure Sprache.«
»Weil du nicht bei deiner Familie lebst.«
Vivana ahnte, was nun kam. Sie schwieg.
»Hast du noch einmal über Madalins Angebot nachgedacht?«, fragte Livia.
»Ich kann nicht mit euch kommen. Wie oft soll ich das noch sagen?«
»Warum nicht? Was hält dich noch hier?«
Ja, was? Es war nicht so, dass Vivana nicht davon träumte, sich den Manusch anzuschließen und mit ihnen durch das Land zu ziehen, wenn sie Bradost wieder für einige Monate verließen. Aber was wurde dann aus ihrem Vater? Sie liebte ihn, trotz der Abneigung, die er für die Manusch empfand, trotz der ständigen Auseinandersetzungen mit ihm. Wenn sie ging, hatte er niemanden mehr. Doch Livia würde das niemals verstehen. Für sie war er der Mann, der das Leben ihrer Schwester zerstört hatte und nun auch Vivana ins Unglück trieb. »Ich habe meine Gründe«, antwortete sie leise.
Livia blickte sie lange an. Wie die Wahrsagerin da saß, im Zwielicht ihres Wagens, sah sie Vivanas Mutter so ähnlich, dass es schmerzte. »Du bist immer bei uns willkommen«, sagte sie, sanfter nun. »Wenn du es dir anders überlegst, lass es uns wissen.«
In diesem Moment fühlte sich Vivana so zerrissen, dass sie am liebsten davongelaufen wäre. Warum war es so schwer, eine Heimat zu finden, einen Ort, wo sie hingehörte?
»Ich sehe jetzt nach den Pferden.« Sie öffnete die Tür und verließ den Wagen.
Jasper Brent war nicht erfreut, als er erfuhr, dass Lady Sarka noch mehr Arbeiter brauchte. Nachdem er die Nachricht gelesen hatte, knallte er sie auf seinen Schreibtisch und knurrte etwas von einem wichtigen Auftrag, den er nun in den Wind schreiben könne. Doch der Reeder wagte nicht, sich der Anweisung zu widersetzen. Er schluckte seinen Zorn herunter, sagte gepresst, dass es ihm stets eine Ehre sei, Lady Sarka zu dienen, und versprach, seine Leute so schnell wie möglich zum Palast zu schicken. Liam hatte Mitleid mit ihm.
Kurz darauf verließ er die Reederei. Als er sich gerade auf den Rückweg machen wollte, bemerkte er auf der anderen Seite des Kanals eine Gruppe von Männern. Man sah ihnen auf den ersten Blick an, dass sie nicht aus Bradost stammten. Sie hatten dunkle Haut und trugen Kopftücher und bunte Westen über den Leinenhemden, an ihren Gürteln hingen Messer.
Manusch.
Plötzlich sah er Vivana vor sich, wie sie vor dem Gemälde in Quindals Haus stand, ein jüngeres Ebenbild ihrer wunderschönen Mutter. Seltsam, wie gut er sich trotz ihrer kurzen Begegnung an ihr Gesicht erinnern konnte. Als würde er sie schon eine Ewigkeit kennen.