Er beobachtete die Manusch, bis sie in einer der zahllosen Gassen verschwanden. Ob sie zu dem Wanderzirkus gehörten, von dem Vivana gesprochen hatte?
Zu dumm, dass sie sich mit ihrem Vater gestritten hatte. Er hätte sie gerne besser kennengelernt. Leider würde er sie frühestens in einer Woche wiedersehen, bei seinem nächsten Treffen mit Quindal.
Auf einmal war da wieder dieses Kribbeln in seinem Magen, genau wie heute Morgen. Nein, eine Woche war viel zu lang.
Ihm kam eine Idee. So chaotisch, wie es gerade im Palast zuging, fiel es gewiss niemandem auf, wenn er eine Weile fortblieb. Und falls doch, konnte er später immer noch behaupten, er sei in der Reederei aufgehalten worden.
Er überquerte die Kanalbrücke und machte sich auf den Weg durch das Labyrinth.
Zunächst ähnelte das Viertel stark der Altstadt, doch mit jedem Häuserblock, den er passierte, veränderte sich die Gegend. Die ehrwürdigen Patrizieranwesen wichen Kaffeehäusern und Varietés mit blinden Scheiben. Schäbige Gebäude säumten die engen Gassen. In den Kellern befanden sich Opiumhöhlen und Tavernen, in den oberen Stockwerken winzige Mietwohnungen, aus denen Kindergeschrei drang. Schilder, von denen die Farbe abblätterte, warben für Hundekämpfe, Wahrsager und Kuriositäten aller Art. Im Schatten der Toreinfahrten schliefen Betrunkene ihren Rausch aus, Gaukler jonglierten zu ausgelassener Musik mit Messern und Fackeln, Ausrufer in phantasievollen Kostümen lockten Passanten in ihre bunten Schaubuden. In den Gassen und Hinterhöfen herrschte reges Treiben, obwohl es noch lange nicht Abend war; von der beklemmenden Atmosphäre in der Altstadt war nicht das Geringste zu spüren. Falls die Menschen auf den Straßen und in den Spelunken von dem Anschlag gehört hatten, so scherten sie sich nicht darum.
Liam war erst ein einziges Mal hier gewesen, vor einem Jahr mit Freunden aus Scotia, obwohl sein Vater es ihm verboten hatte. Er konnte nicht gerade behaupten, sich in den Gassen auszukennen. Nachdem er die Manusch aus den Augen verloren hatte, wanderte er eine Weile ziellos herum, bis er feststellte, dass er sich verlaufen hatte - das Labyrinth trug seinen Namen zurecht.
»Aus dem Weg«, dröhnte eine Stimme, so tief und grollend, dass er sie zunächst für das Knurren eines Tieres gehalten hatte. Er wandte sich um - und wich im letzten Moment einem riesenhaften Geschöpf aus, das sich schwankend seinen Weg durch die Gasse bahnte. Das Wesen überragte ihn um mehr als einen Kopf, obwohl es gebückt ging, weil es ein Bierfass auf den Schultern trug. Hätte es sich aufgerichtet, wäre es gewiss anderthalb mal so groß gewesen wie er. Unter den Lumpen aus Tierhäuten und Fellen verbargen sich schwellende Muskeln und graue, warzige Haut. Verfilztes Haar wuchs in langen Strähnen aus dem Schädel und rahmte ein menschenähnliches Gesicht ein, aus dem eine Hakennase ragte, flankiert von zwei kleinen, gelben Augen. Grob geschmiedete und rostige Eisenreifen, mit Ösen für Ketten, befanden sich an Armen und Beinen.
Ein Oger, begriff Liam. Ehrfurcht regte sich in ihm, als ihm klar wurde, dass er vielleicht eines der letzten dieser Geschöpfe vor sich hatte. Offenbar arbeitete der Oger im Labyrinth und verdiente sich seinen Lebensunterhalt damit, Lasten zu schleppen, die für Menschen zu schwer waren. Damit gehörte er zu jener kleinen Gruppe von Schattenwesen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, weigerten, die Welt zu verlassen. Stattdessen versuchten sie, sich anzupassen und sich mit den Menschen zu arrangieren. Liam wusste von einem Vodjanoj, der im Hafen hauste und von den Kapitänen der Aetherbarken und Teeklipper angeheuert wurde, um Muscheln von den Schiffsrümpfen zu kratzen, sowie von einer Harpyie, die in einer verrufenen Gasse irgendwo in der Grambeuge einen Laden betrieb. Man sah sie nur ganz selten, denn sie versuchten, nicht aufzufallen. Aber es gab sie, wie der Oger eindrucksvoll bewies.
Er blickte dem Furcht einflößenden Wesen nach, bis es im Hofeingang einer Taverne verschwand. Anschließend ging er zu einem Zelt, vor dem ein Ausrufer in einer altmodischen Gardeuniform mit Messingknöpfen stand. »Ich suche einen Wanderzirkus, der einem Manusch gehört. Kannst du mir helfen?« An den Namen von Vivanas Onkel konnte Liam sich nicht mehr erinnern.
»Meinst du Madalin? Du findest ihn auf dem Platz der Erztugenden. Einfach die Straße runter. Du kannst es nicht verfehlen. Aber wieso kommst du nicht rein, mein Junge? Maestra Lynette beschwört einen Dämon - nur für dich! Er sitzt auf deiner Hand und flüstert dir die dunkelsten Geheimnisse zu!«
»Danke, ein andermal«, meinte Liam lachend und wandte sich ab.
Kurz darauf erreichte er den Platz der Erztugenden, wie ein rostiges Straßenschild verkündete. Warum er diesen Namen trug, war Liam ein Rätsel. Taverne reihte sich an Taverne, und Plakate an den Gaslaternen priesen billiges Ale und leicht bekleidete Tänzerinnen an.
Das Zentrum des Platzes nahmen fünf bemalte Reisewagen ein, halbkreisförmig angeordnet. Unter einem Sonnensegel, das zwischen ihnen aufgespannt war, spielten drei Kinder. Eine Frau, die Vivanas Mutter verblüffend ähnlich sah, nahm Äpfel aus einem Korb und legte sie in ihre Schürze. Ein sechster Wagen lag auf der Seite; vier Manusch befestigten neue Räder an den Achsen, während sie sich lachend und scherzend unterhielten. Was sie sagten, konnte Liam nicht verstehen, denn sie redeten in ihrer Muttersprache miteinander. Er hatte einmal gehört, es sei eine geheime Sprache, die ausschließlich Manusch lernen durften.
Liam war zuversichtlich, Vivana anzutreffen, obwohl ihr Vater darauf bestanden hatte, dass sie zu Hause blieb. So, wie er sie einschätzte, war sie niemand, der sich von irgendwelchen Verboten ins Bockshorn jagen ließ.
Allerdings konnte er sie nirgendwo entdecken. Er sprach die Frau an, die gerade die Äpfel an die Männer verteilt hatte und nun zu ihrem Wagen zurückging. »Ist Vivana da?«
Die Frau musterte ihn. »Bist du ein Freund von ihr?«, fragte sie in seiner Sprache.
»Ja.«
»Sie hat gerade ein Pferd weggebracht. Sie müsste gleich wieder da sein. Setz dich doch.«
Er nahm auf einer Bank unter dem Sonnensegel Platz.
»Willst du einen Apfel?«
»Gern.«
Die Manusch reichte ihm den Apfel und setzte sich neben ihn. »Ich bin Livia. Vivanas Tante.«
Liam erinnerte sich, dass Vivana jemanden mit diesem Namen erwähnt hatte. »Liam Hugnall«, stellte er sich vor.
»Sie hat noch nie von dir gesprochen. Kennt ihr euch schon lange?«
»Erst seit gestern. Ich habe sie kennengelernt, als ich ihren Vater besuchte.«
Argwohn flackerte in ihren Augen auf. »Er hat dich doch nicht hergeschickt, oder?«
»Nein«, antwortete er verwundert.
»Das will ich ihm auch geraten haben«, murmelte Livia und blickte wieder zu den Kindern, die auf dem Platz herumtollten.
Liam begann, sich unbehaglich zu fühlen. Erst der Streit zwischen Vivana und ihrem Vater, dann Quindals abfällige Bemerkungen über den Wanderzirkus - und nun das. Ganz offensichtlich herrschten zwischen Quindal und der Familie seiner verstorbenen Frau beträchtliche Spannungen.
»Sind das Ihre Kinder?«, erkundigte er sich, als ihm das Schweigen unangenehm wurde.
Livia nickte. »Das sind Tamas und Arpad. Das Mädchen heißt Dijana.«
»Vivana hat ihren Onkel erwähnt. Madalin. Ist er einer der vier, die den Wagen reparieren?«
»Ja«, antwortete sie einsilbig.
Liam fragte sich, was er tun konnte, um ihr Misstrauen zu zerstreuen. In diesem Moment fiel das Mädchen hin und fing an zu brüllen. Livia seufzte. »Entschuldige mich«, sagte sie und nahm das Kind auf den Arm. Es hatte sich das Knie aufgeschlagen und blutete. Livia strich ihm tröstend über das Haar, während sie es zu einem der Wagen trug. Froh darüber, dass diese seltsame Unterhaltung beendet war, aß Liam seinen Apfel.