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Wenig später tauchte Vivana auf. Sie hielt ein Pferd am Zügel und trug denselben bunten Rock wie gestern. Das kastanienbraune Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Eine einzelne Strähne fiel ihr auf die Wange.

Liam fand sie noch hübscher als gestern.

Er wischte sich die klebrigen Hände an der Hose ab und stand auf. »Hallo, Vivana.«

»Liam.« Sie blieb stehen. »Was machst du denn hier?«

»Ich war zufällig in der Gegend und dachte, ich prüfe nach, was du über die Manusch erzählt hast. Du weißt schon, die Sache mit der Schwarzen Magie.«

Sie lachte. »Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Ich habe gehofft, du könntest mir bei meinen Nachforschungen behilflich sein.«

»Warte hier«, sagte sie und führte das Pferd an den Manuschwagen vorbei zu einer alten Herberge, die nicht mehr benutzt wurde. Nachdem sie das Tier in die Stallungen gebracht hatte, wechselte sie ein paar Worte mit einem der Männer.

»Dein Onkel?«, fragte Liam, als sie zu ihm zurückkam.

Vivana nickte. »Ihm und Tante Livia gehört dieser Zirkus.«

»Deine Tante habe ich gerade kennengelernt.«

»Und? Hat sie dich mit ihrer Schwarzen Magie verhext?«

»Wäre sie dazu fähig?«

»Das hängt ganz davon ab, ob du nett zu ihr warst.«

»Ich habe mich bemüht«, sagte Liam. »Aber ich fürchte, sie glaubt, dein Vater hätte mich geschickt, um dir nachzuspionieren.«

»Hat er?«, fragte Vivana.

Er lachte. »Fang du nicht auch noch an. Er weiß nicht einmal, dass ich hier bin.«

Sie strich die Haarsträhne hinter das Ohr. »Du bist also nur wegen der Manusch hier?«

»Rein wissenschaftliche Neugier. Ich schwöre es.«

»Na gut, Liam Hugnall. Dann will ich dir glauben.« Sie ging zu einem Tischchen unter dem Sonnensegel, auf dem ein Tonkrug stand, und füllte zwei Becher mit einer klaren, grünlichen Flüssigkeit.

»Was ist das?«

»Korkas. Ein Tee nach einem alten Manuschrezept. Versuch es. Es ist besser als Kaffee.«

Liam nippte an dem Getränk. Es schmeckte bitter, aber sehr erfrischend.

»Was gestern passiert ist, tut mir leid«, sagte Vivana. »Wir hätten uns nicht vor dir streiten dürfen. Das war sehr unhöflich von uns.«

»Warum will dein Vater nicht, dass du die Manusch besuchst?«

Sie verzog den Mund. »Es ist... kompliziert.«

Liam spürte, dass sie nicht darüber reden wollte. Er betrachtete die bunten Reisewagen. »Einen Wanderzirkus habe ich mir anders vorgestellt.«

»Wie denn?«

»Mit einem Zelt. Und Schaubuden mit wilden Tieren.«

»Madalin und seine Brüder sind Gaukler. Sie jonglieren, machen Musik und führen Kunststücke auf.«

»Und deine Tante?«

»Sie erzählt Geschichten und liest den Leuten aus der Hand.«

»Also doch Schwarze Magie«, meinte er grinsend.

»Ertappt«, sagte Vivana.

Der Tatzelwurm kam unter einem Wagen hervorgekrochen. Vivana nahm das Geschöpf auf den Arm.

»Woher hast du ihn?«

»Letzten Sommer habe ich am Stadtrand ein schwarzes Ei gefunden, am Ufer eines Sees. Ich habe es für einen seltsam geformten Stein gehalten und mit nach Hause genommen. Naja, und ein paar Tage später ist Ruac geschlüpft. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen, wie du dir vorstellen kannst.«

»So ein Tier habe ich noch nie gesehen.«

»Er ist kein Tier. Tatzelwürmer sind Schattenwesen. Allerdings gibt es nicht mehr viele von ihnen. Die Manusch erzählen sich, dass es früher, als die Magie noch stark war, in den Schluchten von Karst nur so von ihnen gewimmelt hat. Die stärksten sind im Lauf der Jahrhunderte zu Lindwürmern herangewachsen.«

»Dein Vater kann ihn nicht leiden, was?«

»Er hat Angst vor Ruac. Alles, was mit Magie zu tun hat, ist ihm unheimlich.«

»Seltsam, wenn man bedenkt, was er für einen Umgang pflegt.«

»Was meinst du damit?«, fragte Vivana.

»Heute Morgen hat er mit einem blassen Mann im Tweedanzug geredet. Irgendetwas hat mit dem Kerl nicht gestimmt. Wie soll ich es erklären...«

Sie lachte. »Ach, das war nur Godfrey. Keine Sorge, er ist harmlos.«

»Du kennst ihn?«

»Er ist ein alter Freund meines Vaters. Er besucht ihn ab und zu und versorgt ihn mit Informationen. Ist er mal wieder durchsichtig geworden?«

»Ja.« Also hatte er es sich doch nicht eingebildet.

»Godfrey verwandelt sich manchmal teilweise in Aether. Er kann nichts dafür.«

»In Aether?«, fragte Liam ungläubig.

»Er war Mechaniker in der Werkstatt meines Vaters. Vor ein paar Jahren gab es einen Unfall. Der Aetherumwandler ist explodiert. Mein Vater hat seine Hand verloren, und einige seiner Arbeiter wurden verletzt. Godfrey traf es am schlimmsten. Er wurde fast vollständig zu Aether verdampft. Irgendwie ist es meinem Vater gelungen, sein Leben zu retten und ihn wiederherzustellen - wenigstens zum größten Teil.«

In Bradost machten viele solcher Geschichten über Quindals Werkstatt die Runde. Liam hatte sie jedoch immer für Schauermärchen gehalten. Ihn fröstelte. »Was heißt das, er versorgt deinen Vater mit Informationen?«

»Seit seinem Unfall erträgt Godfrey die Gegenwart anderer Menschen nicht mehr. Er hat sich in die Katakomben zurückgezogen. Was er dort macht, weiß ich nicht genau. Ich glaube, er redet mit Schlammtauchern, Vogelfreien und Dieben und erfährt so, was in der Stadt vor sich geht. Seine Informationen verkauft er. Mein Vater bekommt sie kostenlos, zum Dank dafür, dass er ihm das Leben gerettet hat.«

Liam schüttelte den Kopf. Eine unglaubliche Geschichte. Aber sie erklärte, wie Quindal so frühzeitig von dem Anschlag erfahren hatte.

Rufe erklangen. Die Manusch hatten den Wagen repariert und stellten ihn mit vereinten Kräften auf die Räder. Anschließend klopften sie sich gegenseitig auf die Schultern.

»Ich sollte jetzt weiterarbeiten«, sagte Vivana. »Ich habe meinem Onkel versprochen, die Pferde zu striegeln. Es war schön, dich wiederzusehen, Liam.«

»Ja.« Er lächelte. »Das war es.«

Mit Ruac auf dem Arm ging sie zu den Stallungen. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal um. »Übermorgen ist Phönixtag. Ich werde am Turm sein, wenn sie die Feuer anzünden. Kommst du mit?«

»Phönixtag?«

»Spar dir die Mühe«, erwiderte sie. »Ich weiß, dass du aus Bradost bist.«

Liam grinste gequält. »Es steht mir auf der Stirn geschrieben, richtig?«

»Das nicht gerade. Als Schauspieler bist du ganz passabel. Mein Vater hat es mir gesagt.«

Er atmete auf. »Also dann, übermorgen am Phönixturm.«

Es war nur ein flüchtiges Lächeln, mit dem sie sich von ihm verabschiedete, doch er konnte den ganzen restlichen Tag an nichts anderes denken.

22

Die Traumlande

Diesmal hatte Lucien vorgesorgt. Er drehte die Laterne heller und hielt sie vor sich, während er die Augen zusammenkniff und die Tür aufstieß. Die Ghule fauchten hasserfüllt und wichen vor dem Licht zurück. Eilends durchquerte er den Raum, schlüpfte durch die gegenüberliegende Tür und warf sie hinter sich zu, womit er das Zischen der Untoten abschnitt.

Stinkende Kadaver. Ekelhaft.

Lucien löschte die Laterne und sah sich um.

Wie bei seinem letzten Besuch erhellten Kerzen den alten Salon. Er folgte dem leisen Gelächter und gelangte zu einer Nische mit einer abgewetzten Ledercouch, auf der sich ein junger Mann lümmelte. Fay und Whisper, die bleichen Víla-Schwestern, schmiegten sich an ihn, küssten seine Halsbeuge und strichen mit ihren krallenartigen Fingern über seine Arme und die entblößte Brust. Der Jüngling hatte die Augen geschlossen und lächelte glückselig. Vermutlich ein vergnügungssüchtiger Adliger oder Patriziersohn, den die Schwestern irgendwo im Labyrinth aufgegabelt und mit verruchten Versprechungen hierhergelockt hatten. Noch wähnte er sich im Himmel und schob die zunehmende Benommenheit auf den Absinth, den er trank. Wenn er endlich begriff, dass die Schwestern ihm mit jeder Berührung einen Teil seiner Lebenskraft stahlen, würde es längst zu spät sein.