Fay bemerkte Lucien und musterte ihn kalt.
»Wo ist Aziel?«, fragte er.
Wortlos wies die Víla auf den zerschlissenen Vorhang, bevor sie sich wieder ihrem Opfer widmete.
»Wenn ich dir einen Rat geben darf«, wandte sich Lucien an den Jüngling, »geh nach Hause, solange du noch kannst.«
Der blickte ihn aus verschleierten Augen an und lächelte matt. »Nach Hause? Wo denkst du hin, mein Freund! Das hier ist das Paradies.« Er hob sein Absinthglas, das im Kerzenlicht grün schimmerte. »Setz dich zu uns. Trink. Lass uns feiern.«
Lucien seufzte und wandte sich ab.
Er teilte den Vorhang und folgte einem Gang mit schimmeligen Wandtäfelungen, bis er eine Steintreppe erreichte. Unten, in dem Kellergewölbe, zwischen morschen Kisten und Fässern, standen Aziel und Seth und redeten leise miteinander. Der Halbdämon deutete eine Verneigung an, bevor er sich zur Kellerwand umdrehte. Das Mauerwerk wurde durchsichtig, und es erschien eine wabernde, ovale Fläche. Obwohl es schlagartig heiß wurde, schauderte Lucien, als er einen Blick auf die bizarre Landschaft hinter der Öffnung erhaschte: Dunst verhüllte gewaltige Treppen und Pfeiler, Rauch stieg aus Schächten und Abgründen auf. Schwarze Flüsse schlängelten sich zwischen scharfkantigen Felszacken entlang.
Seth trat durch die Öffnung, woraufhin sich das Tor schloss. Zurück blieb ein leichter Schwefelgestank.
Lucien stieg die Treppe hinab. »Was, um alles in der Welt, treibt ihr hier?«
»Seth stellt Nachforschungen für mich an«, erklärte Aziel.
»Im Pandæmonium?«
Der einstige Herrscher der Alben antwortete nicht. Der Saum seiner Robe strich über den Boden, als er Lucien entgegenschritt. »Wo warst du so lange?«, fragte er barsch.
»Zum letzten Maclass="underline" Ich bin nicht dein Leibeigener. Ich komme und gehe, wann es mir passt.«
Ein metallischer Glanz erschien in Aziels Augen. »Hast du etwas herausgefunden?«
Lucien nickte.
»Gut. Gehen wir nach oben.«
»Wir reden hier. Ich will deine Dienerinnen nicht bei ihrem Vergnügen stören.«
»Sie sind Vílen«, entgegnete Aziel. »Sie gehorchen nur ihrer Natur.«
Lucien war nicht gekommen, um sich Vorträge über Geisterfrauen anzuhören. »Ich weiß, wie der Harlekin an Jernigans Lampe gekommen ist«, begann er ohne Umschweife. »Du hattest recht: Jemand hat ihm geholfen.«
»Wer?«, fragte Aziel schneidend.
»Corvas.«
»Und daran besteht kein Zweifel?«
Lucien war gewiss der Letzte, der etwas auf Silas Tornes Wort gab. Dennoch glaubte er nicht, dass der Alchymist gelogen hatte, was die Lampe betraf. »Ich fürchte nein.«
»Corvas«, murmelte Aziel angewidert, als hätte der Name einen üblen Geschmack. »Also steckt die Lady hinter alldem.«
»Das ist nicht gesagt. Corvas hat möglicherweise eigene Pläne.«
»Die alte Krähe? Nein. Corvas würde nie eigenmächtig handeln. Lady Sarka hat ihm befohlen, die Lampe zu beschaffen, genau wie er in ihrem Auftrag den Kerker des Harlekins aufgebrochen hat.«
Lucien dachte an die toten Alben in den Katakomben, an die Schusswunden in ihren verwesenden Leibern. Der Anordnung der Leichen nach zu schließen war es ein kurzer Kampf gewesen, falls es überhaupt einen gegeben hatte. Sie waren mit genau jener grausamen Effizienz angegriffen worden, für die man Corvas in ganz Bradost fürchtete. »Du glaubst, die Lady hat den Harlekin benutzt?«
»Ja.«
»Warum sollte ihr daran gelegen sein, dich zu entmachten?«
»Es wird Zeit, das herauszufinden«, knurrte Aziel und ergriff Luciens Hand.
Die Kellerwände verblassten, und für einen Wimpernschlag hatte Lucien das Gefühl, zu fallen. Im nächsten Moment waren die feuchten Mauern und die Kistenstapel verschwunden. Sie fanden sich im großen Saal des Albenpalastes wieder.
Lucien blickte zu den Galerien auf, wo sich bei seinem vorletzten Besuch hunderte von Alben gedrängt hatten. Die Säulen verloren sich im Zwielicht, und die Stille, die in dem gewaltigen Gebäude herrschte, wirkte gespenstisch.
»Was tun wir hier?«
»Ich will mir Lady Sarkas Träume ansehen.« Aziel ging zur Treppe, die zu den Emporen führte.
Lautloser Wind strich durch die Korridore. Während Lucien dem älteren Alb durch die Hallen und Flure folgte, fiel ihm auf, dass sich der Palast seit dem Zweikampf verändert hatte. Säulen und Pfeiler bekamen Risse. Bodenplatten waren gesprungen. Wände begannen zu bröckeln.
Der Palast des Albenherrschers verfiel. Aziel bot all seine Kräfte auf, um die Träume zu kontrollieren, aber offenkundig gelang es ihm nicht, die Schäden, die überall entstanden, einzudämmen oder gar zu beheben. Selbst ein alter und machtvoller Alb wie er war dieser Aufgabe ohne die Hilfe seines Volkes nicht gewachsen.
»Alles verkommt«, sagte Aziel düster, als hätte er Luciens Gedanken gelesen. »Ich schaffe es gerade noch, die Seelenhäuser vor dem Verfall zu bewahren, doch ich werde von Tag zu Tag schwächer. Dort draußen könnten die schrecklichsten Dinge geschehen, und ich würde es nicht einmal bemerken. Geschweige denn, dass ich etwas dagegen tun könnte. Was, wenn die Träume außer Kontrolle geraten? Was dann, Lucien?«
Diese Frage war so groß, so bedrohlich, dass Lucien es stets vermieden hatte, darüber nachzudenken. Er schwieg bedrückt.
Sie stiegen die Wendeltreppe zum höchsten Turm des Palastes hinauf. Unter dem Kuppeldach, hoch über den Zinnen, befand sich ein kreisrunder Raum. Lucien trat an eines der Spitzbogenfenster und betrachtete die Stadt, die sich um den Palast ausbreitete.
Sie war so gewaltig, dass nicht einmal Lucien mit seinen scharfen Augen ausmachen konnte, wo sie endete. Abermillionen von Seelenhäusern drängten sich aneinander, bedeckten die Ebene bis zum Horizont. Ewiges Zwielicht herrschte in den Gassen, ein Schleier aus Silberstaub lag über den Dächern. Die Luft unter dem nachtblauen Firmament war erfüllt vom unaufhörlichen Wispern und Raunen der Träume. Sammler krochen durch die Straßen und holten verbrauchte Traumsubstanz aus den Seelenhäusern. Geflügelte Boten brachten frische, die sie in den Höhlen unter dem Palast ernteten und in Form tropfenförmiger Blasen in die Kamine fallen ließen. Sowohl die schwammähnlichen Sammler als auch die insektenartigen Boten waren geistlose Kreaturen; sie folgten Abläufen, die seit Jahrtausenden feststanden, weswegen sie noch nicht bemerkt hatten, dass es keine Alben mehr gab. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie begriffen, dass niemand mehr auf sie aufpasste und sie tun und lassen konnten, was ihnen gefiel. Lucien wagte nicht, sich das Chaos vorzustellen, das unweigerlich die Folge sein würde.
»Hast du noch Kraft für einen Sprung?«, fragte Aziel.
»Ja. Aber ich fürchte, ohne deine Hilfe finde ich das Seelenhaus der Lady nicht.«
»Früher hast du es doch auch gekonnt.«
»Ich bin aus der Übung.«
»Gib mir deine Hand«, knurrte Aziel unwirsch.
Sie landeten irgendwo in der Stadt. Lucien blinzelte benommen, als er Aziels Hand losließ. Er war an all das nicht mehr gewöhnt.
Gebäude säumten die Straße, große und kleine, prächtige und schäbige, je nachdem, wie die Seelen, die sie beherbergten, beschaffen waren. Verkümmerte Seelen hausten in Hütten, während sich sehr intelligente, willensstarke oder phantasiebegabte Schlösser und Prachtbauten schufen, in denen sie sich ihren Träumen hingaben, um sich von den Mühen des Tages zu erholen.
Lady Sarkas Seelenhaus glich einem dunklen Ebenbild ihres Palastes in Bradost. Es überragte sämtliche Gebäude weit und breit.