Aziel ging zu einem kleineren Haus in der Nähe.
»Was machst du da?«, rief Lucien.
»Etwas in Ordnung bringen.«
Die Fenster des Gebäudes waren dunkel, denn es enthielt gerade keine Seele und folglich auch keine Träume. Die Wände und das Dach wiesen Risse auf. Aziel legte seine Hand auf die Tür, woraufhin die Schäden verschwanden.
»Gehen wir«, sagte er.
Eins kann er wiederherstellen, dachte Lucien. Aber was ist mit den unzähligen anderen, die gerade zerfallen?
Sie folgten dem Pfad, der den Hügel zu Lady Sarkas Seelenhaus hinaufführte. Seltsame, gekrümmte Pflanzen wuchsen auf den Hängen. Lucien konnte sich nicht daran erinnern, je eine menschliche Seele gesehen zu haben, die in der Lage war, die Gegend außerhalb ihrer Zuflucht zu beeinflussen. Lady Sarka musste sehr mächtig sein. Oder sehr größenwahnsinnig.
Aziel stieß die Tür auf, und sie traten ein.
Das Seelenhaus war leer. Eine dünne Schicht Traumsubstanz bedeckte den Boden. Ein Sammler kroch durch die Zimmer und Flure und nahm die silbrige Materie in sich auf.
»Sieht so aus, als müssten wir abwarten, bis sie das nächste Mal träumt«, sagte Lucien.
»Nein.« Aziel nahm etwas Traumsubstanz auf und ließ sie durch seine Finger rinnen. »Schau dir das an. Unverbraucht.«
»Was hat dann der Sammler hier zu suchen?«
»Er ist ein geistloses Wesen, das nur seine Arbeit tut. Er begreift nicht, dass die Traumsubstanz nicht verbraucht wurde. Vermutlich taucht bald ein Bote auf und liefert frische.«
»Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.«
»Lady Sarka träumt nicht mehr«, erklärte Aziel.
»Aber Menschen müssen träumen. Wenn sie nicht träumen, verlieren sie spätestens nach einem Monat den Verstand.«
»Es sei denn, sie finden einen Weg, ihre Seele zu schützen.«
»Das ist nicht möglich.«
»Wer weiß, wozu Lady Sarka fähig ist. Schau dir ihr Seelenhaus an. Sie hat einen unbeugsamen Willen und große Macht.«
»Aber um den Schlaf zu besiegen, müsste sie...«
»Nicht das Wie ist entscheidend, sondern das Warum«, fiel ihm Aziel barsch ins Wort. »Sie wusste, dass ich herkommen würde. Deshalb hat sie dafür gesorgt, dass ihr Seelenhaus leer ist - aus Angst, ich könnte herausfinden, was sie vorhat.«
Beklemmung stieg in Lucien auf. Falls der einstige Albenkönig recht hatte, war Lady Sarka mächtiger, als er je für möglich gehalten hätte. »Was willst du jetzt tun?«
Aziels Augen funkelten. »Geh zurück nach Bradost. Dring in ihren Palast ein und sieh dich um. Such nach Hinweisen auf ihre Pläne. Und beeil dich, bevor es zu spät ist.«
23
Das Labor
Umbra fand Amander im Salon, wo er sich wie üblich in einem Sessel lümmelte.
»Was machst du hier?«, fuhr sie ihn an. »Die Herrin erwartet uns!«
Der Schwarzhaarige sah von der Zeitung auf, in der er gelangweilt geblättert hatte. »Ich warte auf Corvas.«
»Er ist schon bei ihr.«
Amander seufzte und faltete das Blatt zusammen. Umbra blickte ihn voller Ungeduld an, während er sich schwerfällig erhob. Sie hatte nicht viel übrig für ihn, nicht nur wegen seiner chronischen Unzuverlässigkeit. Sein ganzes Wesen war ihr zuwider. Umbra hatte nichts dagegen, dass er hin und wieder Leute beseitigte, die sich als störend erwiesen - wohl aber gegen die Art und Weise, wie er es tat. Er genoss es regelrecht.
Amander griff nach einer Laterne und stellte sich dicht neben sie, obwohl er genau wusste, dass sie das nicht mochte. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu und rückte von ihm ab, woraufhin er anzüglich lächelte.
»Komm schon«, begann er.
»Halt den Mund. Ich muss mich konzentrieren.«
Sie öffnete ein Tor. Die Sonne ging gerade unter, weswegen es ihr kaum Mühe bereitete. Ihre Kräfte waren abends genauso stark wie am frühen Morgen.
Sie traten durch das Tor und folgten schweigend dem Schattentunnel. Nachdem sie eine Weile abwärts gegangen waren, schuf Umbra eine Öffnung, durch die sie in die Höhlen tief unter dem Palast gelangten.
Während sich der Spalt hinter ihnen schloss, drehte Amander die Lampe auf. Das Licht fiel auf unregelmäßig geformte Wände, die nicht aus Stein bestanden, sondern aus einer glasartigen Substanz.
»Wieso hast du den Jungen nicht mitgenommen?«, fragte Amander, während sie den Stollen entlanggingen.
»Jackon ist noch nicht so weit.«
Der Schwarzhaarige kicherte leise.
»Was gibt’s da zu lachen?«
»Weißt du noch, wie er gesehen hat, was ich mit der Ratte gemacht habe? Sein Gesicht... Der arme Kerl hätte sich vor Angst fast nass gemacht.«
»Herrgott, er ist erst fünfzehn.«
»Er ist ein Waschlappen, wenn du mich fragst. Er hat nicht das Zeug dazu, einer von uns zu werden.«
»Zum Glück fragt dich keiner«, erwiderte Umbra unfreundlich.
Amander warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Sag bloß, du nimmst die kleine Kanalratte in Schutz. Was bist du - sein Kindermädchen?«
Sie fuhr zu ihm herum. Ihr Schatten wuchs im schwankenden Laternenlicht in die Länge und krümmte sich die Tunnelwand hinauf. »Ich will das nie wieder hören, verstanden?«, erwiderte sie leise.
»Was - Kanalratte oder Kindermädchen?«
Der Schatten streckte die Arme nach dem Schwarzhaarigen aus. Amander wich zurück und hob abwehrend die freie Hand. »Ho!«, sagte er. »Schon gut. Es war nur ein Witz.«
Umbra starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Spar dir deine Witze«, knurrte sie, ließ ihren Schatten auf seine normale Größe schrumpfen und ging weiter.
Kindermädchen - pah! Sie befolgte nur die Befehle der Herrin. Darüber hinaus gab sie Jackon hin und wieder einen Stoß in die richtige Richtung, damit er nicht unter die Räder geriet. Natürlich konnte er eine schreckliche Nervensäge sein. Aber das gab Amander nicht das Recht, ihn Kanalratte zu nennen. Wenn jemand den Jungen Kanalratte nennen durfte, dann sie.
Sie erreichten jenen Teil der Höhlen, der stets von einem fahlen blauen Glühen erfüllt war, und betraten eine weitläufige Kaverne. Nischen befanden sich in den Wänden. In zweien hingen kokonartige Gebilde. Offenbar hatte die Herrin gleich nach dem Attentat begonnen, neue Homunculi heranzuzüchten, als Ersatz für jene, die von den Angreifern vernichtet worden waren. Allerdings würde es noch Wochen dauern, bis die Geschöpfe reif waren. Noch waren ihre Kokons nicht größer als eine Schweinsblase.
Umbra verspürte ein leichtes Schaudern beim Anblick der spindelförmigen Hüllen. Manchmal schien sich etwas darin zu bewegen. Sie war im Lauf ihres Lebens Dämonen und Schattenwesen begegnet, darunter einigen wirklich scheußlichen Exemplaren. Aber an diese Dinger würde sie sich nie gewöhnen.
Eine Ecke der Kaverne wurde von einem Athanor eingenommen, einem Ofen, von dem mehrere Röhren zu einer alchymistischen Apparatur auf einem Steintisch verliefen. Kochende Flüssigkeiten strömten durch Zylinder und Destillierkolben, Ventile sonderten fauchend Dampf ab, der durch Öffnungen in der Decke abzog.
Corvas stand in der Mitte der Höhle und beobachtete die Herrin, die an der Apparatur arbeitete. Sie trug lederne Schutzkleidung und eine Maske, die über mehrere schlauchartige Atemstutzen verfügte und auf bizarre Weise an einen Tintenfisch erinnerte.
Umbra wusste, warum die Herrin sie gerufen hatte, und konnte die Anspannung in der Luft beinahe körperlich spüren. Sie versuchte, in Corvas’ Miene zu lesen, um einen Hinweis zu bekommen, was sie erwartete. Aber natürlich gab das bleiche Antlitz nicht das Geringste preis.