Lady Sarka streifte die Maske ab, warf die Handschuhe auf den Tisch und wischte sich das schweißnasse Haar aus dem Gesicht, bevor sie die Kaverne durchquerte. Jemand, der nicht wusste, was geschehen war, wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass sie erst gestern mehrere schreckliche Verletzungen erlitten hatte. Umbra jedoch bemerkte, dass sie sich noch nicht vollständig erholt hatte: Einige ihrer Bewegungen wirkten seltsam eckig, ihre Haut war ein wenig blasser als sonst. Die... Verwandlung musste sie unsagbar viel Kraft gekostet haben.
Ein diamantenes Glitzern lag in Lady Sarkas Augen, als sie ihre drei Leibwächter anblickte. »Habt ihr eine Erklärung für euer Versagen?«
Umbra war sich durchaus im Klaren, wie gefährlich die derzeitige Stimmung der Herrin war, weshalb sie ihre Worte sehr genau abwägte. Allerdings kam Corvas ihr zuvor.
»Was geschehen ist, ist unverzeihlich«, sagte er. »Dafür gibt es keine Entschuldigung.«
»Unverzeihlich?«, fauchte die Lady. »Es war stümperhaft! Ein Attentat in meinem eigenen Haus - was für eine Schande. Nenn mir einen Grund, warum ich euch nicht alle drei aus der Stadt jagen soll.«
»Wir haben vorab sämtliche Namen auf der Gästeliste überprüft«, sagte Umbra vorsichtig. »Es gab keinen Hinweis, dass jemand etwas plante.«
Lady Sarka wandte sich ihr ruckartig zu. »Weil ihr schlampig gearbeitet habt! Der Anschlag wurde seit Monaten vorbereitet. Wie kann es sein, dass euch so etwas entgeht?«
»Meine Krähen sehen viel, aber nicht alles«, erklärte Corvas.
»Ach wirklich? Vielleicht fehlt ihnen nur der richtige Ansporn. Vielleicht geben sie sich mehr Mühe, wenn ich ab und zu einem deiner Lieblinge den Hals umdrehe.«
»Das wird nicht nötig sein«, entgegnete der Schwarzgekleidete tonlos.
»Das will ich hoffen. Denn einen weiteren Fehler werde ich nicht hinnehmen. Von keinem von euch.«
Lady Sarka schritt zum Tisch, wo sie begann, die Verschlüsse des Schutzanzuges zu öffnen. Umbra atmete unmerklich aus. Wie es schien, waren sie glimpflich davongekommen.
»Komm her«, befahl die Herrin.
Umbra half ihr, aus dem Anzug zu schlüpfen. Obwohl sie splitterfasernackt war, machte die Lady keine Anstalten, sich vor den Blicken ihrer drei Leibwächter zu verbergen. Ungeniert ging sie zu einem Stuhl, griff nach ihrem Gewand und streifte es sich über.
»Wie geht die Suche nach den Verschwörern voran?«, erkundigte sie sich bei Corvas.
»Einige wollten die Stadt verlassen, als sie von dem gescheiterten Attentat erfahren haben. Meine Leute haben sie festgenommen, bevor ihr Luftschiff startklar war. Der Rest der Gruppe scheint sich im Kessel zu verstecken.«
»Scheint?«, fragte Lady Sarka scharf.
»Wir suchen noch nach ihnen«, erklärte der Schwarzgekleidete nach einem kaum merklichen Zögern.
Bei allen Dämonen, dachte Umbra. Sogar er hat Angst vor ihr.
»Findet sie. Und dann schafft sie in den Magistrat. Ich will sie persönlich verhören.«
»Gewiss.«
»Du lässt jeden verhaften, dessen Name im Verlauf der Ermittlungen fällt. Ich will, dass dieser Sumpf trockengelegt wird. Und so lange betritt niemand ohne meine ausdrückliche Erlaubnis den Palast, ist das klar?«
Corvas nickte.
Lady Sarka blickte in die Runde. Mit einer Hand stützte sie sich auf der Stuhllehne ab. Umbra bemerkte, dass sie zitterte.
»Ihr solltet Euch ausruhen«, murmelte sie.
»Nein«, erwiderte die Herrin barsch. »Es gibt noch viel zu tun. Was ich bisher unternommen habe, reicht offensichtlich nicht aus. Ihr werdet mir einen Doppelgänger beschaffen.«
Die Worte hingen in der Luft. Umbra war die Erste, die ihre Überraschung überwand.
»Einen Doppelgänger? Wozu?«
»Zu meinem Schutz, was sonst?«
»Aber Ihr seid geschützt. Der Anschlag hat das bewiesen...«
»Wer weiß, wie lange noch«, fiel Lady Sarka ihr ins Wort. »Meine Feinde schlafen nicht. Sie werden alles versuchen, um das Geheimnis meiner Macht zu ergründen.«
Umbra konnte sich nicht vorstellen, wie. Allerdings hatte sie es auch nicht für möglich gehalten, dass jemand so verrückt sein könnte, die Herrin in ihrem eigenen Palast anzugreifen. »Ein Doppelgänger würde vieles erleichtern«, räumte sie ein. »Aber es wird schwierig sein, einen zu finden. Sie sind selten geworden.«
»Ich habe gehört, Silas Torne aus dem Chymischen Weg besitzt einen.«
»Tornes Haus ist in der vergangenen Nacht abgebrannt«, sagte Corvas.
»Abgebrannt?«, wiederholte Lady Sarka.
»Offenbar gab es in seinem Laboratorium einen Unfall. Meine Krähen haben gemeldet, dass ein Blutgeist ausgebrochen ist und alles verwüstet hat.«
»Hat Torne überlebt?«
»Ja. Allerdings ist er kurz nach dem Feuer verschwunden.«
»Finde ihn. Vielleicht ist er bereit, mir seinen Doppelgänger zu verkaufen.«
»Der Doppelgänger ist vermutlich bei dem Brand gestorben.«
»Bring Torne trotzdem her. Wenn mir jemand helfen kann, dann er.«
Umbra äußerte ihre Bedenken: »Der Mann hat nicht gerade einen guten Ruf. Ich weiß nicht, ob es klug ist, Geschäfte mit ihm zu machen...«
»Sein Ruf kümmert mich nicht. Und jetzt verschwindet und macht eure Arbeit.«
Corvas und Amander verließen die Kaverne, während sich die Herrin wieder der Apparatur zuwandte.
»Wieso bist du immer noch hier, Umbra?«, fragte sie ungehalten.
»Wegen Jackon. Wollt Ihr seine Ausbildung fortsetzen?«
»Es war nie die Rede davon, damit aufzuhören.« Lady Sarka warf einen Blick über ihre Schulter. »Mein derzeitiger Zustand wird mich jedenfalls nicht davon abhalten. Das ist es doch, woran du denkst, nicht wahr?«
»Ihr solltet warten, bis Ihr wieder bei Kräften seid.«
»Mir geht es gut.«
»Ihr seid schwach«, widersprach Umbra.
»Schwach«, stieß die Herrin hervor und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Was hast du denn erwartet? Vor weniger als einem Tag bin ich gestorben und wieder auferstanden. Wie würdest du dich an meiner Stelle fühlen?«
24
Quindals Warnung
Das Luftschiff verdeckte die Sonne, als es mit dröhnenden Propellern den Ankermast ansteuerte. Heerscharen von Männern fingen die Haltetaue und zogen es mit vereinten Kräften zum Erdboden, wo es behutsam aufsetzte. Die Motoren verstummten, goldener Aetherdampf verflüchtigte sich im Wind. In der Gondel öffnete sich eine Luke. Passagiere stiegen die Trittleiter hinab und wurden von einem Bodenoffizier begrüßt. Wenig später bugsierte die Haltemannschaft das Schiff zu einer der tonnenförmigen Hallen aus Ziegelsteinen und Stahlstreben, die das Flugfeld umgaben.
Liam fuhr seinen Pferdewagen zu einer benachbarten Halle und hielt vor dem Tor. Ein Arbeiter in ölverschmierter Kleidung schirmte seine Augen vor dem Sonnenlicht ab, während er die Ladung begutachtete. »Sind das die Letzten?«, fragte er.
»Ja.« Liam nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche, nachdem er vom Kutschbock gestiegen war.
»Abladen!«, brüllte der Arbeiter, woraufhin mehrere Männer herbeieilten und begannen, Eisenträger, Rotorblätter und andere Luftschiffteile zur Halle zu tragen. Als sie fertig waren, verteilte Liam ein paar Münzen Trinkgeld, was ihm freudige Dankesrufe einbrachte. Dann stieg er wieder auf und fuhr los.
In der Stadt herrschte eine beinahe gespenstische Ruhe. Die Menschen sahen zu, dass sie ihre Geschäfte erledigten, und gingen auf dem schnellsten Weg nach Hause, falls sie ihre Wohnungen überhaupt verließen. Viele Läden hatten geschlossen. Niemand wagte es, laut zu sprechen oder auf andere Weise aufzufallen, aus Angst, die Aufmerksamkeit der Pikeniere zu erregen, die in Vierergruppen durch die Straßen patrouillierten. Der Phönixplatz, wo fast alle Unruhen der letzten Wochen ihren Anfang genommen hatten und wo es normalerweise vor fliegenden Händlern, obskuren Predigern und Spontanrednern nur so wimmelte, wirkte wie ausgestorben. Liam begegnete lediglich einem Tross von Arbeitern, die das Kopfsteinpflaster ausbesserten. Sogar die Aetherbörse hatte vorübergehend die Geschäfte eingestellt.