»Livia sagt, es enthält alte Zaubersprüche und Rituale.«
Liam hatte beinahe vergessen, dass Vivana mit ihrer Tante über das Buch gesprochen hatte. Aufregung erfasste ihn. »Was weiß sie noch?«
»Sie meint, es sei so selten, dass manche glaubten, es würde gar nicht existieren.«
»Das ist alles?«, fragte er enttäuscht.
»Leider.«
Liam fluchte leise. Er hatte schon gehofft, mit der Hilfe der Manusch mehr über das Buch herauszufinden.
Vivana kaute wieder auf ihrer Unterlippe. »Was würdest du davon halten, wenn ich dir helfe?«, fragte sie unvermittelt.
»Wobei? Das Buch zu finden?«
»Ja.«
»Eben hast du noch gesagt, dass es zu gefährlich ist.«
»Für dich allein. Aber nicht für uns beide.«
»Wie meinst du das?«
Ihre Augen waren schwarz in der Dunkelheit, als sie ihn anblickte. »Ich hätte da eine Idee...«
28
Jackons Rache
Jackon wurde von Nacht zu Nacht besser. Indem er sich beim Eintritt in sein Seelenhaus bewusst machte, dass er nur träumte, besaßen die verwirrenden Bilderfluten, die ihn dort erwarteten, kaum noch Macht über ihn. Er fokussierte seine Gedanken, sodass er mühelos die Tür fand und sein Seelenhaus verlassen konnte. Auch das Springen fiel ihm immer leichter.
Seine Kräfte wuchsen, und er genoss es.
In der vergangenen Nacht hatte er Asher einen Besuch abgestattet. Dessen Seelenhaus glich einem Palast aus Unrat und Müll, protzig und abstoßend zugleich. Jackon hatte Asher in einem Saal aufgespürt, wo dieser sich großspurigen Träumen von Reichtum und Macht hingab. Indem er hier und da eine Kleinigkeit veränderte, hatte er bewirkt, dass sich der Lumpensammler plötzlich in einem schrecklichen Albtraum wiederfand. Seine Macht war verschwunden, sein Reichtum ebenfalls, und er hatte sich so schwach und hilflos gefühlt wie die Schlammtaucher und Bettler, die er tagtäglich ausbeutete. Als Jackon sich ihm zu erkennen gab, hatte er gewimmert wie Darren und ihm alles versprochen, wenn er nur aufhörte, seine Träume heimzusuchen. »Wirklich alles?«, hatte Jackon gefragt, woraufhin Asher verzweifelt nickte. Also hatte Jackon ihn aufgefordert, die Schlammtaucher von nun an gut zu behandeln und für ihre Funde anständig zu bezahlen. Für den Fall, dass Asher den Traum vergaß oder sich nicht an die Abmachung hielt, hatte er angekündigt, wiederzukommen und dem Lumpensammler noch schrecklichere Albträume zu bescheren.
Außer Darren und Asher gab es noch viele andere Leute, die ihn gedemütigt und schikaniert und ihm das Leben schwer gemacht hatten. Er würde sie alle heimsuchen.
Heute Nacht kam ein Schlammtaucher namens Han an die Reihe. Han war es gewesen, der damals durchgesetzt hatte, dass Jackon aus den Behausungen der Schlammtaucher am Flussufer verstoßen wurde, als immer mehr Gerüchte um seine unheimlichen Kräfte die Runde machten. Han hatte ihn damit zu einem elenden und einsamen Leben in den tiefer gelegenen Kanälen verurteilt, obwohl er genau wusste, wie gefährlich es dort war.
Aber das würde er bald bereuen.
Nachdem Jackon sein Seelenhaus verlassen hatte, konzentrierte er sich und versuchte, sich Hans Gesicht vorzustellen, seine Stimme, sein Wesen, alles, was den Schlammtaucher ausmachte. Es fiel ihm wesentlich schwerer als bei Darren und Asher, denn es war mehr als ein Jahr her, dass er Han das letzte Mal gesehen hatte. Kurz darauf sprang er.
Er kam vor einer schäbigen Hütte auf. Nachdem er die Benommenheit abgeschüttelt hatte, warf er einen Blick durch das einzige Fenster. Träume huschten und waberten durch das winzige Seelenhaus, allerdings gehörten sie nicht Han, sondern einem anderen Schlammtaucher, der am Flussufer wohnte.
Jackon wurde klar, dass er sich nicht genug konzentriert hatte. Er gab sich mehr Mühe als beim ersten Mal und malte sich Han in seinen zerlumpten Kleidern in allen Einzelheiten aus.
Er landete in einer anderen Gasse. Zwei Sprünge so kurz hintereinander waren sehr anstrengend, und er musste sich eine Weile an eine Mauer gelehnt ausruhen. Seine Gedanken tanzten wild und ungeordnet durch seinen Kopf. Es kostete ihn all seine Kraft, nicht zu vergessen, weswegen er hergekommen war.
Er fuhr herum, als er ein vertrautes Summen hörte. Vier Boten näherten sich der Gasse, ihre Flügelpaare schillerten im ewigen Zwielicht der Stadt wie hauchdünnes Silber. Die Geschöpfe wurden auf ihn aufmerksam, umkreisten ihn neugierig und betasteten ihn mit den rüsselartigen Fortsätzen an ihren Köpfen. Obwohl Jackon inzwischen wusste, dass sie ungefährlich waren, erfüllten ihn der Anblick der riesigen Insekten und besonders ihre Berührung nach wie vor mit Ekel. Er schrie und wedelte mit den Armen, doch als sie sich nicht verjagen ließen, beschloss er, sich mit einem Sprung zu retten.
Er landete... irgendwo. Seelenhäuser umgaben ihn, über den Dächern erstreckte sich das dunkle Firmament. Der Sprung hatte ihn so sehr erschöpft, dass er seine Konzentration verlor. Im nächsten Moment wusste er weder, was er hier tat, noch, wovor er geflohen war.
Er beschloss, sich ein wenig umzusehen, bis es ihm wieder einfiel. Ziellos streifte er durch die Straßen, wobei er einen Bogen um die widerwärtigen Sammler machte, die überall herumkrochen.
Er hatte etwas gesucht - aber was?
Plötzlich lichteten sich die Seelenhäuser und gaben den Blick auf ein gewaltiges Gebäude frei, mächtiger als alles, was er je in dieser Stadt gesehen hatte. Zinnengekrönte Mauern erhoben sich vor ihm, überragt von spitzen Türmen mit schwarzen Fenstern, die wie Augen auf ihn herabblickten. Der unaufhörliche Wind ließ glitzernden Staub um das Gemäuer tanzen.
Jackon konnte sich dunkel daran erinnern, dass Lady Sarka einmal von einem Palast gesprochen hatte, der im Herzen der Seelenstadt stand.
War er deswegen hergekommen?
Leider wusste er nicht mehr, was die Lady über den Palast gesagt hatte.
Es war wohl am besten, er sah sich das Bauwerk aus der Nähe an.
Wind zerzauste seine Haare, während er auf den Palast zuging. Der silberne Staub legte sich auf seine Kleidung und brannte in seinen Augen. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf. Drohte hier Gefahr?
Nein, nicht ihm. Er war ein Traumwanderer. Es gab nichts, wovor er sich fürchten musste.
Er entdeckte ein Tor und trat ein. Nach wenigen Schritten gelangte er in eine Säulenhalle, von der verwinkelte Flure und enge Treppenfluchten abzweigten. Es war weder hell noch dunkel. Das Mauerwerk wies Risse auf. Steinbrocken waren von der Decke gefallen und auf dem Boden zersplittert.
Falls es sich bei diesem Gebäude um ein Seelenhaus handelte, musste es einer überaus beeindruckenden Persönlichkeit gehören. Umso merkwürdiger, dass es verfiel.
Nirgendwo waren Träume zu sehen.
Jackon wanderte durch leere Korridore und Räume. In einer gewaltigen Halle blieb er stehen. Balustraden umliefen den Saal, die Galerien hinter den Säulen verloren sich im Zwielicht. Die Decke war so hoch, dass er sie kaum erkennen konnte.
In einem Durchgang stand eine Gestalt.
Sie war groß, viel größer als er, und trug eine Robe aus fließendem Stoff. Langes, schlohweißes Haar fiel auf die breiten Schultern und betonte die dunkle Haut des Mannes.
Seine Augen glitzerten, als er Jackon musterte.
»Wer bist du?«, fragte er mit einer Stimme, die so alt, so machtvoll war, dass Jackon vor Ehrfurcht erstarrte.
Der Mann kam näher. »Sag mir deinen Namen«, befahl er. »Sag mir, wer es wagt, in Aziels Schloss einzudringen.«
Aziel! Auf einen Schlag fiel Jackon alles wieder ein. Dies war der Herr der Träume, der unerbittliche Herrscher der Seelenstadt, vor dem ihn Lady Sarka gewarnt hatte - und er war geradewegs in dessen Palast hineingeschlendert.
Voller Entsetzen wirbelte Jackon herum und ergriff die Flucht. Rannte durch Flure und Hallen, wie er noch nie gerannt war. Doch als er endlich das Tor erreichte, stand Aziel bereits dort.