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Als es von der nahen Kirche des hl. Willebrordus sechs Uhr schlug, wurde Antje ein wenig unruhig und setzte den Kaffee in der Kochnische warm. Die Unpünktlichkeit Pieters war ihr unbegreiflich. Soweit sie sich erinnern konnte, war es in ihrer fünfjährigen Ehe bisher nur dreimal vorgekommen, daß er eine halbe Stunde später von der Sparkasse kam: einmal beim Jahresabschluß, einmal bei einer Direktionsvisite und einmal bei einem Unterschlagungsfall einer untergeordneten Angestellten. Immer aber hatte Pieter bei der Nachbarin angerufen und Bescheid gegeben, so daß sie nie im Ungewissen blieb.

Das Ungewohnte der Verspätung machte Antje ratlos und nachdenklich. Sie kochte für Fietje einen dicken Grießbrei und fütterte ihn, badete ihn dann in einer kleinen Wanne und brachte ihn in das neben der Küche liegende Schlafzimmer zu Bett. Damit er schnell einschlief, sang sie ein leises, wehmütiges

Schlafliedchen und schlüpfte dann auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Als sie in die Küche trat, schlug es halb sieben Uhr.

Von Pieter keine Spur.

Unruhig setzte sie sich ans Fenster und blickte auf die am Abend stark belebte Noorderstraat. Sie dachte dabei eigentlich an nichts als an die Frage, warum Pieter so spät käme und warum er nicht wie immer vorher angerufen habe.

Als es sieben Uhr schlug, stand sie auf und ging hinüber zur Nachbarin. Schüchtern fragte sie, ob sie einmal telefonieren könne. Ihr Mann sei noch nicht da, und das beunruhige sie.

Die Nachbarin, eine joviale, dickliche Postinspektorswitwe, nickte ihr lächelnd zu und öffnete die Stubentür.

»Aber selbstverständlich, Frau van Brouken«, sagte sie freundlich. »Ich kenne das von meinem Mann. Sie reiben sich an der Arbeit auf, denken nicht an ihre Frauen und sterben früh. Das einzige Andenken, das sie hinterlassen, ist dne leidlich anständige Pension.«

Sie warf einen schnellen, wehmütigen Blick auf das Bild ihres dicken Mannes und schob Antje vor den schwarzen Telefonkasten.

Schüchtern blickte die junge Frau auf die glitzernde Drehscheibe, nahm zögernd den Hörer ab und wählte mit unsicheren Fingern die Nummer der Sparkasse. Nach einer Weile des Wartens meldete sich eine Stimme. Antje stotterte in die Muscheclass="underline"

»Ja ... hier Antje van Brouken ... Ist mein Mann noch da? ... Brouken ... Ja! - Nein? Wieso nein?! Mein Mann ist richt da? Wieso? Ja ... er ist noch nicht hier ... Was? - Er ist pünktlich weggegangen? Ja - danke ... «

Klick!

Der Hörer lag auf der Gabel. Ratlos blickte sich Antje nach der Inspektorswitwe um.

»Er ist nicht da«, stammelte sie. »Er ist pünktlich weggegangen ...«

Die alte, joviale Dame lächelte und streichelte ihr über das helle Haar.

»Nur keine Sorge, kleines Frauchen. Wird schon einen Freund getroffen haben oder einen früheren Schulkameraden, und nun sind sie ... «

Antje schüttelte den Kopf.

»Pieter hat keinen Freund«, unterbricht sie. »Er ist immer pünktlich!«

»Vielleicht ein Kollege.«

»Dann hätte er angerufen.«

»Oder er ist auf dem Weg hierher durch irgend etwas aufgehalten worden«, wagte die Dame einzuwenden.

»Pieter läßt sich nicht abhalten!« sagte Antje fest und setzte sich neben das Telefon auf einen dunkelblauen Plüschstuhl. Und plötzlich wurden ihre hellen, blauen, gütigen Augen starr und groß, und sie stammelte: »Da ist etwas geschehen - ein Unglück, irgend etwas Schreckliches ... ich fühle es - mein Gott ...«

Ohne daß sie es wollte, weinte sie lautlos. Die Tränen rannen ihr einfach aus den Augen, und sie hatte keine Kraft, sie zurückzuhalten.

Die Postinspektorswitwe sah ratlos auf Antje hinab und wußte nicht, was sie sagen sollte. Wenn ein Mann eine Stunde später nach Hause kommt, brauchte ja nicht gleich ein Unglück geschehen zu sein. Die Sorge der jungen Frau schien ihr übertrieben und kindisch.

»Uns bleibt nichts übrig, als geduldig zu warten«, sagte sie nach einer langen Pause. »Wenn Ihr Mann bis 10 Uhr noch nicht gekommen ist, bleibt uns noch ein Weg: die Polizei!«

»Die Polizei?« fragte Antje erschreckt und zuckte auf.

»Wir müssen ihn suchen lassen ... «

»Sie glauben auch, daß ...« Antjes Augen waren weit aufgerissen. Sie wagte nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.

»Ich glaube nichts«, sagte die joviale Dame. »Man muß nur auch damit rechnen.« Dann beugte sie sich über die wieder weinende Antje und legte den Arm tröstend um ihre Schulter. »Warten wir eben noch ein Weilchen. Wenn er dann kommt, ist ja alles gut. Ihr Mann hat Sie verwöhnt, kleine Frau - Sie müssen ihm auch einmal eine Stunde Freiheit lassen.«

Und sie warteten zusammen, tranken Kaffee und knabberten Plätzchen.

Warteten geduldig und wurden stiller und stiller.

Sie warteten, bis es vom Turme des hl. Willebrordus 10 Uhr schlug.

»Das Leben ist stinklangweilig geworden«, sagte der Kriminalinspektor Felix Trambaeren und legte die Zeitung auf seinen breiten Schreibtisch. »Die Menschen scheinen besser geworden zu sein!

Kriminalassistent Ferdinand Brox nickte und gähnte.

»Seit einem Jahr kein Mord mehr! 7 Gewaltverbrechen, 14 Überfälle, 4 einwandfreie Selbstmorde, 217 Einbrüche, 19 Erpressungen, eine Entführung und 397 kleinere Sachen. Man wird in Amsterdam äußerst sittsam!«

Das Zimmer, in dem diese Statistik mit süßsaurer Miene heruntergeleiert wurde, lag im Amsterdamer Gerichtsgebäude an der Prinsengracht. Es war dem diensttuenden Kommissar zur Verfügung gestellt worden, um bei Verhaftungen gleich mit dem Untersuchungsrichter Fühlung zu nehmen und mit dem nahegelegenen Gefängnis an der Lijnbaansgracht in direkter Verbindung zu stehen.

Ferdinand Brox, ein 28 Jahre alter Mann, dessen Frechheit in Kollegenkreisen berühmt und in der Verbrecherwelt gefürchtet war, blickte seinen Chef mit zusammengekniffenen Augen an und seufzte tief auf.

»Ich weiß nicht«, sagte er, »was in Sie gefahren ist, lieber Trambaeren! Seien Sie froh, daß unser Dezernat so ruhig ist! Es geht nichts über die Geruhsamkeit des Beamten! Oder wünschen Sie sich jeden Tag einen Mord mit wilder Jagd nach dem Täter?«

»Immer noch besser als dieses Herumsitzen und Warten«, knurrte Trambaeren und steckte sich eine Zigarette an. Dann hielt er die Schachtel über den Tisch zu Brox. »Nehmen Sie auch eine?«

»Bin so frei«, nickte Brox und nahm sich eine Zigarette heraus.

Da klopfte es.

»Nanu?« sagte Trambaeren erstaunt und sah Brox an. »Es klopft.«

»Es scheint so«, nickte Brox.

»Um 22:11 Uhr abends?«

»Vielleicht Ihr ersehnter Mord?«

»Herein!« rief der Inspektor und setzte sich hinter dem Schreibtisch zurecht.

Ein Polizeibeamter, der unten als Pförtner Nachtdienst machte, trat ein und pflanzte sich an der Tür auf. Sein gutmütiges Gesicht war voller Diensteifer.

»Unten stehen zwei Frauen«, meldete er. »Sie möchten den Herrn Inspektor sprechen. Es ist eilig, sagen sie.«

»So? Sagen sie? Um was handelt es sich denn?«

Trambaeren hatte eine Abneigung gegen nächtliche Frauenbesuche. Meistens waren es Eifersuchtsszenen oder versuchte Notzüchtigungen.

Der Polizist zuckte die Achseln.

»Das haben die Frauen nicht gesagt. Sie sind nur sehr aufgeregt, eine von ihnen weint andauernd und redet von verschwunden ...«

Der Polizist salutierte und verließ das Zimmer.

Zögernd, befangen von der gefürchteten Nähe der Polizei, mit geröteten, verweinten Augen traten wenig später Antje van Brouken und die dickliche Postinspektorswitwe ins Zimmer.

Trambaeren sprang auf, bot den beiden Damen Platz an und fragte sie, was sie zu so später Stunde noch zu ihm führte. Brox hielt sich im Hintergrund und machte sich stenographische Notizen.

Stockend, oft unterbrochen durch die ausbrechenden Tränen und heftiges Schluchzen, erzählte Antje das Verschwinden ihres Mannes Pieter.

Inspektor Trambaeren sah zunächst erstaunt in die Ecke zu Brox, der ihm frech zulächelte.