„Lügen?“ Boardmans Augen blitzten auf. „Ist es eine Lüge, wenn Sie sagen, Sie seien der Sohn Ihres Vaters und dies Ihre erste größere Expedition in den Weltraum?“
„Daß ich ein Archäologe bin?“
Boardman zuckte die Achseln. „Wollen Sie ihm lieber erzählen, Sie wären als Teilnehmer eines Suchtrupps nach Lemnos gekommen, der hinter Richard Muller her ist? Meinen Sie, damit sein Vertrauen gewinnen zu können? Denken Sie doch einmal über Ihre Aufgabe nach, Ned.“
„Sicher, der Zweck, der die Mittel heiligt. Schon verstanden.“
„Wirklich?“
„Wir sind hierher gekommen, um Muller zu einer Zusammenarbeit zu bewegen, weil wir glauben, daß er der einzige ist, der uns vor einer schrecklichen Gefahr erretten kann“, sagte Ned. Seine Stimme klang gleichgültig, emotionslos und unbewegt. „Daher müssen wir uns aller Mittel bedienen, die Erfolg versprechen könnten.“
„Richtig. Und ich wünschte, Sie würden sich nicht so zieren, wenn Sie das sagen.“
„Tut mir leid, Charles, aber mir wird verdammt übel, wenn ich daran denke, wie ich ihn täuschen soll.“
„Wir brauchen ihn, Ned.“
„Sicher, aber ein Mann, der schon so viel durchgemacht hat…“
„Wir brauchen ihn trotzdem.“
„Also gut, Charles.“
„Ich brauche Sie auch, Ned“, sagte Boardman. „Wenn ich eine Möglichkeit sähe, die Sache selbst zu übernehmen, würde ich das sofort tun. Aber sobald er mich entdeckte, wäre es um mich geschehen. In seinen Augen bin ich ein Ungeheuer. Und genauso verhält es sich mit allen anderen, die früher mit ihm gearbeitet haben. Aber Sie stehen anders da. Es kann durchaus sein, daß er Ihnen Vertrauen schenkt. Sie sind jung, Sie sehen so verdammt tugendhaft aus, und Sie sind der Sohn eines seiner besten Freunde. Sie könnten es schaffen.“
„Ich soll ihm eine faustdicke Lüge nach der anderen auftischen, bis er auf unser Spielchen hereinfällt.“
Boardman schloß die Augen. Er schien sich nur mit Mühe beherrschen zu können.
„Hören Sie auf, Ned.“
„Fahren Sie fort. Was soll ich ihm erzählen, nachdem ich mich vorgestellt habe?“
„Versuchen Sie, Freundschaft mit ihm zu schließen. Und nehmen Sie sich Zeit dafür. Bringen Sie ihn so weit, daß Ihre Besuche zum festen Bestandteil seines Lebens werden.“
„Und was, wenn ich seine Nähe nicht ertragen kann?“
„Lassen Sie sich nichts anmerken. Ich weiß, das ist der schwierigste Teil am ganzen Unternehmen.“
„Das schwierigste ist die verdammte Lügengeschichte, Charles.“
„Wie Sie meinen. Trotzdem, zeigen Sie ihm, daß Sie seine Gesellschaft ertragen können. Strengen Sie sich an. Plaudern Sie mit ihm. Geben Sie ihm zu erkennen, daß Sie Zeit von Ihrer wissenschaftlichen Arbeit für ihn aufwenden und die Schinder und Sklavenantreiber, die Ihre Expedition leiten, nicht wollen, daß Sie sich so oft mit ihm treffen, Sie sich jedoch aus Mitleid und Sympathie zu ihm hingezogen fühlen und sich keinen Deut darum scheren, was die Vorgesetzten sagen. Erzählen Sie ihm alles über sich: Ihre Ambitionen, Ihre Erfahrungen mit Frauen, Ihre Hobbys, was immer Sie wollen. Plappern Sie munter drauflos. Das kann nur dabei helfen, bei ihm den Eindruck zu verstärken, es mit einem naiven jungen Mann zu tun zu haben.“
„Soll ich die Galaktiker erwähnen?“ wollte Rawlins wissen.
„Nun ja, aber fallen Sie nicht mit der Tür ins Haus. Erwähnen Sie sie kurz am Rande, wenn Sie ihm zum Beispiel erzählen, was sich in der Zwischenzeit alles getan hat. Aber erzählen Sie bloß nicht zuviel. Und erst recht nichts darüber, was für eine Gefahr sie für uns darstellen. Und kein Sterbenswörtchen darüber, daß wir ihn dringend brauchen, verstanden? Wenn er den Eindruck gewinnt, wir wollten ihn nur benutzen, sind wir erledigt.“
„Wie soll ich ihn dazu bewegen, das Labyrinth zu verlassen, wenn ich ihm nicht sagen darf, was wir von ihm wollen?“
„Machen Sie sich darüber jetzt noch keine Gedanken“, antwortete Boardman. „Ich werde Sie schon auf die nächste Etappe vorbereiten, sobald Sie die erste bewältigt und sein Vertrauen gewonnen haben.“
„Mit anderen Worten“, sagte Rawlins, „Sie wollen, daß ich ihm eine Lüge erzähle, die so schmutzig und gemein ist, daß Sie es jetzt nicht wagen, sie mir zu nennen, aus Furcht, ich würde die Hände zum Himmel recken und das Unternehmen platzen lassen.“
„Ned…“
„Tut mir leid. Aber verstehen Sie bitte, Charles, warum müssen wir ihn mit einem Trick herauslocken? Warum können wir ihm nicht einfach sagen, die Menschheit brauche ihn? Oder ihn mit Gewalt aus dem Irrgarten holen?“
„Halten Sie das für moralisch weniger verwerflich?“
„Irgendwie käme es mir ehrlicher vor. Ich hasse diese hinterhältigen Ränke und Tricks. Ich würde lieber dabei helfen, Muller k. o. zu schlagen, ihn dann aus dem Labyrinth ins Freie zu bringen und ihm dann zu erklären, was wir wollen. Ich stünde bereit, es mit der gewaltsamen Methode zu versuchen, weil wir ihn wirklich dringend benötigen. Und über genügend Helfer verfügen wir ohnehin.“
„Tun wir nicht“, sagte Boardman. „Wir können ihn nicht mit Gewalt herausholen. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Es ist riskant. Er könnte sich in dem Moment selbst töten, in dem wir ihn zu packen versuchten.“
„Eine Betäubungswaffe“, beharrte Rawlins. „Ich könnte es selbst tun. Ich brauchte nur in seine Nähe zu kommen und ihn niederzustrecken. Dann tragen wir ihn aus dem Labyrinth nach draußen, und wenn er wieder aufwacht, erzählen wir ihm…“
Boardman schüttelte mit allem Nachdruck den Kopf. „Ihm standen neun Jahre zur Verfügung, das Labyrinth auszukundschaften. Wir wissen nicht, welche Tricks er von ihm gelernt oder welche Verteidigungsfallen er zusätzlich eingebaut hat. Solange er dort drin ist, werde ich mich hüten, etwas gegen ihn zu unternehmen, was nach Gewalt aussehen könnte. Er ist viel zu wertvoll, wir dürfen kein leichtfertiges Risiko eingehen. Wer von uns weiß denn schon, ob er nicht den ganzen Laden so programmiert hat, daß er in dem Augenblick in die Luft fliegt, in dem einer die Waffe gegen ihn erhebt? Er muß aus freiem Willen den Irrgarten verlassen, Ned. Und das heißt, wir müssen ihn mit einem Trick herauslocken. Ich weiß, die Sache stinkt. Manchmal stinkt das ganze Universum. Ist Ihnen das nie aufgefallen?“
„Es braucht nicht zu stinken!“ sagte Rawlins stur und laut. „Ist das die Lektion, die Sie in all den Jahren gelernt haben? Das Universum stinkt nicht, sondern die Menschen darin! Und die Menschen tun das auch noch freiwillig, weil sie lieber stinken, als Schweiß zu riechen! Wir müssen nicht lügen. Wir müssen nicht betrügen. Wir könnten uns für Wahrhaftigkeit und Würde und…“ Rawlins hielt abrupt inne. Mit gedämpfter Stimme sagte er dann: „Ich komme Ihnen sicher sehr grün hinter den Ohren vor, was, Charles?“
„Sie dürfen Fehler machen“, sagte Boardman. „Das ist das Vorrecht der Jugend.“
„Sie glauben also wirklich und sind sogar davon überzeugt, das Geschick des Universums wird von irgendeiner kosmischen Boshaftigkeit gelenkt?“
Boardman preßte die Spitzen seiner dicken, kurzen Finger aneinander. „Ich würde es so nicht ausdrücken wollen. Es gibt keinen Fürst der Finsternis, der schaltet und waltet; genausowenig wie es sein Gegenstück gibt, das personifizierte Gute. Das Universum ist nichts als eine riesige, unpersönliche Maschine. Ihre Funktion bringt es mit sich, daß sie dazu neigt, immer wieder einmal kleinere Teile von sich zu überbeanspruchen. Diese Teile verschleißen dann, und das Universum schert sich einen Dreck darum, weil es unbegrenzt Ersatz herstellen kann. Es ist nichts Unmoralisches an einem solchen Verschleiß. Nur wenn man es vom Gesichtspunkt dieses überbeanspruchten Teils aus sieht, muß man zugeben, daß die Sache stinkt. Es begab sich, daß zwei kleinere Teile der Universumsmaschine zusammenstießen, als wir Dick Muller auf dem Planeten der Hydrier absetzten. Wir mußten ihn dorthin befördern, weil es in unserer Natur liegt, Nachforschungen anzustellen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Und die Hydrier haben ihm dann das angetan, was sie ihm angetan haben, weil eben das Universum gewisse Teile überbeansprucht. Und das Resultat dieses Zusammenstoßes: Dick Muller verließ Beta Hydri IV als schwer angegriffenes Teil. Er war zwischen die Räder der Universumsmaschine geraten und ist dort zermahlen worden. Nun stehen wir vor einem zweiten Zusammenstoß der Teile. Ein ebenso unvermeidbares Aufeinandertreffen. Und wir müssen Muller ein zweites Mal zwischen die Räder geraten lassen. Er wird höchstwahrscheinlich ein zweites Mal zermahlen — und das stinkt sicher. Um ihn in eine Position zu bringen, von der wir ihn in die Maschine stoßen können, müssen wir beide, Sie und ich, ein wenig unsere Seele beflecken — was, zugegeben, ebenfalls stinkt. Und andererseits bleibt uns wirklich absolut keine Wahl in dieser Angelegenheit. Wenn wir uns nicht selbst kompromittieren und Muller hereinlegen, geben wir damit vielleicht den Anstoß zu einer neuen Überbelastung eines Teils. Das könnte in diesem Fall die Menschheit sein, die dann vernichtet würde — und das wird sicher am allermeisten stinken. Ich bitte Sie um nicht mehr und nicht weniger, als eine unerfreuliche Sache für einen lauteren Zweck zu tun. Sie sträuben sich natürlich dagegen, dafür habe ich auch Verständnis, aber ich versuche Ihnen hier nur klarzumachen, daß die persönliche Lauterkeit des Charakters nicht immer der allerwichtigste Faktor ist. Im Krieg schießt der Soldat, um jemanden zu töten, weil das Universum ihn in eine solche Situation versetzt. Es mag ein ungerechter Krieg sein, und es mag sogar sein eigener Bruder sein, auf den er da zielt- aber der Krieg ist real, und er spielt darin seine ihm zugewiesene Rolle.“