„Was war für Sie bisher die schwierigste Stelle?“ wollte Rawlins wissen.
„Das Verzerrungsfeld“, antwortete Boardman.
„Das war doch gar nicht einmal so schlimm… außer, wenn man etwas dagegen hat, mit geschlossenen Augen durch so eine gefährliche Gegend zu laufen. Wissen Sie, eines von diesen kleinen Raubtieren hätte uns dort anfallen können. Und wir hätten solange nichts davon bemerkt, bis wir seine Zähne im Nacken gespürt hätten.“
„Ich habe einen Blick riskiert“, erklärte Boardman.
„Im Verzerrungsfeld?“
„Nur einen kurzen Moment lang. Ich konnte einfach nicht widerstehen, Ned. Ich will gar nicht erst versuchen zu beschreiben, was ich gesehen habe. Aber es war eine der sonderbarsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe.“
Rawlins lächelte. Er hätte Boardman am liebsten dafür beglückwünscht, etwas so Dummes und Gefährliches, aber auch Menschliches getan zu haben. Doch er traute sich nicht. Statt dessen sagte er: „Wie war das denn? Sind Sie nur dort stehengeblieben, haben sich kurz umgesehen und sind dann weitergegangen? Sind Sie dabei nicht in Gefahr geraten?“
„Nur einmal. Ich vergaß mich und hätte beinahe einen Schritt in die falsche Richtung getan. Aber ich konnte mich im letzten Moment zurückhalten. Ich hielt die Füße fest auf dem Boden und sah mich um.“
„Vielleicht versuche ich das auch einmal auf dem Rückweg“, sagte Rawlins. „Ein kurzer Blick kann ja nicht schaden.“
„Woher wollen Sie wissen, daß das Feld auch nach der anderen Richtung hin wirksam ist?“
Rawlins runzelte die Stirn. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wir haben bisher noch gar nicht versucht, durch das Labyrinth nach draußen zu gelangen. Was ist, wenn dann ganz andere Fallen auf uns warten? Für diese Route besitzen wir weder Karten noch sonstige Unterlagen. Was, wenn wir alle bei dem Versuch umkommen, wieder hinaus zu gelangen?“
„Wir setzen halt wieder Drohnen ein“, sagte Boardman. „Darüber würde ich mir jetzt noch keine Sorgen machen. Wenn es so weit ist, lassen wir einen Trupp Sondierungsroboter ins Camp in Zone F kommen und erproben den Rückweg genauso wie den Hinweg.“
Nach einer Weile sagte Rawlins: „Warum sollte es eigentlich auf dem Weg hinaus Fallen geben? Das hieße doch, die Erbauer des Irrgartens hätten ebenso versucht, Feinde auszuschließen wie sich einzuschließen. Warum sollte jemand so etwas tun wollen?“
„Wer will das wissen, Ned? Es waren schließlich Außerirdische, deren Gedankengänge wir nicht kennen.“
„Ja, deren Gedanken wir nicht kennen.“
15
Boardman erinnerte sich daran, daß die Konversation von seiner Seite noch nicht beendet war. Er bemühte sich um Freundlichkeit. Schließlich waren sie im Angesicht solch tödlicher Gefahren Kameraden. So sagte er: „Und welche Stelle war für Sie bisher die schrecklichste?“
„Jene Scheibe, ein Stück zurück“, sagte Rawlins. „Dort, wo einem das schreckliche, kranke Zeug gezeigt wird, das im eigenen Bewußtsein zu Hause ist.“
„Welche Scheibe meinen Sie?“
„Nahe dem Zentrum von Zone H. Eine goldene Scheibe, die mit Metallbändern an einer hohen Mauer befestigt ist. Als ich hineinblickte, sah ich dort ein paar Sekunden lang die Züge meines Vaters. Und danach ein Mädchen, das ich einmal gekannt habe. Sie ist später Nonne geworden. Die Scheibe zeigte sie, wie sie sich entkleidete. Ich glaube, das sagt einiges darüber aus, was in meinem Unterbewußtsein so vor sich geht, was? Sodom und Gomorrha. Aber bei wem von uns ist das nicht so?“
„Ich habe nichts dergleichen gesehen.“
„Aber Sie konnten die Scheibe doch gar nicht verfehlen. Sie befand sich, äh… etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo Sie das Tier erschossen haben. Ein Stück weiter links, in halber Höhe der Wand, eine rechtwinklige Scheibe… nein, eher trapezförmig, mit einer leuchtend weißen Metallumrahmung. Farben wirbelten durcheinander, und Formen.“
„Ach ja, die Scheibe. Ich habe geometrische Formen gesehen.“
„Ich sah, wie Maribeth sich auszog“, meinte Rawlins mit verdutzter Stimme, „und Sie haben nur geometrische Formen gesehen?“
16
Auch Zone F konnte tödlich sein. Eine kleine, perlartige Blase öffnete sich am Boden, und ein Strom glitzernder Kugeln rollte heraus. Sie kamen auf Rawlins zu. Sie bewegten sich mit der bösartigen Entschlossenheit von hungrigen Soldatenameisen. Sie stachen in sein Fleisch. Ned zertrampelte einige von ihnen, kam aber in seinem Ärger und Eifer fast einem aufblitzenden blauen Licht zu nahe. Er kickte drei Kugeln in das Licht, und sie zerschmolzen.
17
Boardman hatte bereits mehr als genug.
18
Seit ihrem Eintritt ins Labyrinth waren erst eine Stunde und achtundvierzig Minuten vergangen. Aber es kam den beiden Männern viel länger vor. Der Weg durch Zone F führte in einen Raum mit rosafarbenen Wänden, wo aus verborgenen Ventilen pfeilförmige Dampfwolken abgelassen wurden. Am anderen Ende des Raums befand sich ein irisierender, schlitzartiger Durchgang. Durchquerte man ihn nicht genau im richtigen Moment, wurde man zerquetscht. Die Öffnung bot Zugang zu einer Passage mit niedriger Decke, in der es bedrückend eng und stickig war. Die Wände waren blutrot und pulsierten in nervenaufreibendem Rhythmus. Hinter der Passage lag ein offener Platz, an dessen Ende sechs weiße Metallsäulen standen. Sie sahen aus, wie zum Zuschlagen bereite Schwerter. Ein Springbrunnen jagte Wasserfontänen hundert Meter hoch in die Luft. Der Platz wurde von drei Türmen flankiert, die viele Fenster in allen Formen und Größen besaßen, von denen keine zwei gleich waren. Prismatisches Scheinwerferlicht spielte auf den Scheiben. Kein einziges Fenster war zerbrochen. Auf den Stufen vor einem der Türme lag das Skelett eines Wesens, das zehn Meter groß gewesen war. Eine Kugel, unzweifelhaft ein Schutzhelm, bedeckte den Schädel.
19
Im Camp in Zone F befanden sich Alton, Antonelli, Cameron, Greenfield und Stein. Es diente als rückwärtige Basis für die Gruppe, die sich weiter voraus befand. Antonelli und Stein kehrten zu dem Platz im Zentrum von F zurück und stießen dort auf Rawlins und Boardman.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte Stein. „Möchten Sie sich vorher noch etwas ausruhen, Mr. Boardman?“
Boardman warf ihm einen finsteren Blick zu. Sie marschierten weiter.
Antonelli sagte: „Davis, Ottavio und Reynolds sind heute morgen nach E weitergezogen, nachdem Alton, Cameron und Greenfield zu uns gestoßen waren. Petrocelli und Walker erkunden am Rand von E entlang und haben auch schon ein kleines Stück von D erforscht. Sie sagen, es sähe dort viel besser aus.“
„Ich reiße ihnen den Schädel vom Rumpf, wenn sie weiter hineingehen“, sagte Boardman.
Antonelli lächelte nervös.
Das Basiscamp bestand aus zwei Kuppeln, die nebeneinander auf einem kleinen, freien Stück am Rande eines Gartens errichtet worden waren. Man hatte das Stück Land sorgfältig untersucht und erwartete dort jetzt keine Überraschungen mehr. Rawlins trat in eins der Zelte und zog seine Schuhe aus. Cameron reichte ihm ein Reinigungsmittel. Greenfield gab ihm ein Nahrungspack. Rawlins fühlte sich unter diesen Männern nicht recht wohl. Ihnen hatten im Leben nicht so viele Möglichkeiten offengestanden wie ihm. Sie hatten keine so ausgezeichnete Erziehung genossen wie er. Sie würden nicht solange leben wie er, selbst wenn sie allen Gefahren entgehen konnten, denen sie ausgesetzt wurden. Keiner von ihnen hatte blonde Haare oder blaue Augen, und wahrscheinlich konnten sie sich chirurgische Verschönerungsoperationen auch gar nicht leisten, die ihnen ein solches Aussehen verliehen hätten. Und trotzdem schienen sie glücklich und zufrieden. Vielleicht, weil sie sich nicht den Kopf über die moralischen Implikationen zerbrechen mußten, Richard Muller mit Tricks aus dem Irrgarten zu locken.