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„Also wollt Ihr eine Weile hierbleiben. Wollen die anderen auch zu mir ins Zentrum kommen?“

Rawlins befeuchtete seine Lippen. „Sie haben mich vorausgeschickt, um mit Ihnen die nötigen Kontakte aufzunehmen. Aber diesbezügliche Pläne haben wir noch nicht. Das hängt alles von Ihnen ab. Wir wollen uns Ihnen nicht aufdrängen. Wenn Sie also nicht wollen, daß wir hier vor Ihrer Nase arbeiten…“

„Ganz genau, das will ich nicht“, erklärte Muller barsch. „Sag das deinen Freunden. In fünfzig oder sechzig Jahren bin ich tot, dann können sie hier so viel herumschnüffeln wie sie wollen. Aber solange ich lebe, möchte ich nicht, daß sie mich belästigen. Sollen sie ruhig in den vier oder fünf äußeren Zonen arbeiten. Aber wenn einer von ihnen seinen Fuß in A, B oder C setzt, bringe ich ihn um. Ich habe die Möglichkeiten dazu, Ned.“

„Was ist mit mir? Bin ich willkommen?“

„Gelegentlich. Ich kann meine Stimmungen nicht vorhersagen. Wenn du mit mir reden möchtest, dann komm her und warte ab. Und wenn ich dir erkläre, du sollst dich zur Hölle scheren, dann tust du das auch. Verstanden, Ned?“

Rawlins grinste freundlich. „Klar, verstanden.“ Er stand auf. Muller, dem es nicht behagte, zu dem Jungen aufzusehen, erhob sich ebenfalls. Rawlins trat ein paar Schritte auf ihn zu.

„Was hast du vor?“ fragte Muller.

„Mir paßt es nicht, über so eine Entfernung mit Ihnen zu reden, wo ich brüllen muß. Ich kann Ihnen doch ruhig noch etwas näher kommen, nicht wahr?“

Mit neu erwachtem Mißtrauen erwiderte Muller: „Du bist doch nicht etwa so eine Art Masochist?“

„Da muß ich leider passen. Nein.“

„Nun, ich bin andererseits auch kein Sadist. Ich möchte nicht, daß du allzu nah an mich herantrittst.“

„So schlimm ist es wirklich nicht, Dick.“

„Du lügst. Dir behagt es genauso wenig wie allen anderen auch. Ich bin für die anderen wie ein Pestkranker, mein Junge. Und wenn du eine perverse Neigung zur Pest hast, dann tut es mir für dich leid. Komm mir nicht näher. Es behagt mir gar nicht, wenn ich sehe, wie andere durch meine Schuld leiden müssen.“

Rawlins blieb stehen. „Wie Sie wollen. Also, um das einmal klarzustellen, Dick, ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich versuche nur, höflich, freundlich und zuvorkommend zu sein. Wenn ich Ihnen damit auf die eine oder andere Weise Unbehagen bereite… nun, dann brauchen Sie mir das nur zu sagen, und ich höre damit auf. Es freut mich weder, noch nützt es mir etwas, wenn ich Ihnen auf die Nerven gehe.“

„Sag mal, mein Junge, was willst du eigentlich wirklich von mir?“

„Nichts.“

„Warum läßt du mich dann nicht allein?“

„Sie sind ein menschliches Wesen und waren hier so lange ganz allein. Da ist es doch nur selbstverständlich, wenn ich Ihnen meine Gesellschaft anbiete. Oder hört sich das für Sie so eigentümlich an?“

Muller zuckte die Achseln. „Ich fürchte, ich bin kein guter Gesellschafter. Vielleicht solltest du deine ganze christlich reine Barmherzigkeit wieder einpacken und verschwinden. Es gibt keine Möglichkeit, wie du mir helfen kannst, Ned. Du bist höchstens fähig, mir Schmerz zuzufügen,… indem du mich an all das erinnerst, was ich nicht mehr haben kann oder weiß.“ Muller wandte sich ab und sah an dem jungen Mann vorbei auf die Schattenfiguren, die an den Wänden entlanghüpften. Er verspürte Hunger. Dies war die Stunde, in der er sich immer sein Abendessen jagte. Hart sagte er: „Mein Sohn, ich glaube, meine Geduld ist allmählich erschöpft. Es wird Zeit für dich zu gehen.“

„In Ordnung. Darf ich denn morgen wiederkommen?“

„Vielleicht. Wir werden sehen.“

Der Junge lächelte freundlich. „Vielen Dank, daß ich mit Ihnen reden durfte, Dick. Ich komme wieder.“

4

Im schwachen und veränderlichen Licht des Mondes suchte sich Rawlins einen Weg aus Zone A. Die Stimme des Schiffscomputers in seinem Ohr führte ihn den Weg zurück, den er gekommen war. Hin und wieder, an Stellen, wo keine Gefahr drohte, schaltete Boardman sich ein. „Sie hatten einen ausgezeichneten Start“, erklärte er. „Wir können es als Pluspunkt buchen, daß er Sie überhaupt akzeptiert hat. Wie fühlen Sie sich?“

„Beschissen, Charles.“

„Weil Sie so nahe an ihn herantreten mußten?“

„Weil ich etwas so Schmutziges tun mußte.“

„Jetzt aber Schluß damit, Ned. Wenn ich Sie jedes Mal moralisch wieder aufrichten muß, sobald Sie von einem Trip ins Zentrum zurückkehren…“

„Ich tue das, was von mir verlangt wird“, sagte Rawlins. „Aber deshalb muß ich meine Arbeit noch nicht mögen.“ Er bewegte sich vorsichtig an einem Katapultsteinblock vorbei, der ihn in einen Abgrund schleudern konnte, falls er die Kontaktstelle zu sehr mit seinem Gewicht belastete. Ein kleines, gefährlich aussehendes Tier fletschte die Zähne, als er an ihm vorbeikam. Nachdem er das Katapult hinter sich hatte, stieß er an passender Stelle gegen eine Wand und gewann so Zutritt zu Zone B. Er sah zum Sims hinauf und entdeckte dort in einer Nische den Schlitz der visuellen Überwachungsanlage des Labyrinths. Er lächelte, für den Fall, daß Muller seinen Rückzug am Monitor verfolgte.

Er begriff jetzt, warum Muller sich dafür entschieden hatte, sich wie ein moderner Robinson hier einzurichten. Unter ähnlichen Umständen hätte er wahrscheinlich das gleiche getan. Oder etwas noch Verrückteres. Muller schleppte, dank der Hydrier, eine seelische Verformung in einer Zeit mit sich herum, wo Deformationen als unfein galten. Es war fast ein ästhetisches Verbrechen, sich mit einem fehlenden Glied, nur einem Auge oder ohne Nase in der Öffentlichkeit zu zeigen. Diese Verstümmelungen konnten leicht behoben werden. Und jeder schuldete es einfach seinen Mitmenschen, körperliche Gebrechen tilgen zu lassen. Die Gesellschaft mit seinen Gebrechen zu konfrontieren, galt eindeutig als asozialer Akt.

Aber kein noch so begabter Chirurg konnte Mullers Leiden durch eine Operation beheben. Das einzige Mittel dagegen war ein Rückzug aus der Gesellschaft. Eine schwächere Persönlichkeit hätte sich für den Freitod entschieden. Muller hatte das Exil gewählt.

Rawlins war noch immer völlig durcheinander. Die volle Wucht von Mullers Ausstrahlung hatte ihn verwirrt. Einige Sekunden lang hatte er eine formlose, inkohärente Ausstrahlung von ungefilterten Emotionen empfangen. Mullers Innerstes hatte sich unfreiwillig und stumm ergossen. Der Empfang solch unkontrollierter Intimität löste Schmerz und Niedergeschlagenheit aus.

Die Hydrier hatten Muller nicht im eigentlichen Sinn zu einem Telepathen umgewandelt. Muller konnte nicht in den Gedanken anderer lesen oder seine Gedanken anderen übermitteln. Er sandte nur einen Strom seines innersten Ichs aus: einen Strudel unverdünnter Verzweiflung, einen Fluß aus Bedauern und Leid, einen Strom aus fauligem Seelenschlamm. Er konnte solche Ergüsse einfach nicht zurückhalten. In diesem scheinbar ewig währenden Augenblick war Rawlins in jenem Meer gebadet worden. In den anderen Momenten hatte er nur vage und unspezifizierte Traurigkeit empfangen.

Er konnte seine eigenen ursprünglichen Empfindungen in diesem ungehemmten Ausfluß erkennen. Mullers Schmerzen waren nicht einzigartig oder individuell. Er verströmte lediglich die Erkenntnis von den Nöten, die das Universum für seine Bewohner bereithielt. In jenem Augenblick hatte Rawlins gespürt, daß ihm jeder Mißklang der Schöpfung vertraut war: verpaßte Gelegenheiten, enttäuschte Liebe, häßliche Worte, Leiden in unverschuldeter Not, Mangel, Gier, Lüste, den bohrenden Neid, die Bitterkeit der Frustration, den schmerzenden Zahn der Zeit, den Tod aller kleinen Insekten im Winter, die Tränen aller Lebewesen. Er hatte Alter, Verlust, Impotenz, Wut, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Öde, Selbstverachtung und Wahnsinn erfahren. Ein stummer Aufschrei kosmischen Zorns.