Выбрать главу

„Käfige?“

„Sieh dorthin… auf die Straße, die vom Platz ausgeht.“

Rawlins entdeckte einen Alkoven vor einer Gebäudewand. Aus dem Boden ragten ein Dutzend oder mehr nach oben gebogener Streben aus weißem Gestein. In einer Höhe von etwa vier Metern verschwanden sie in der Wand und bildeten so eine Art Käfig. Weiter oben auf der Straße konnte Ned einen zweiten solchen Käfig ausmachen.

„Es gibt etwa zwanzig von ihnen“, sagte Muller. „Sie sind symmetrisch auf den Straßen rund um den Platz angeordnet. Seit ich hier bin, haben sie sich dreimal geöffnet. Dann sind diese Streben in die Straße zurückgeglitten. Das letzte Mal vor zwei Nächten. Ich habe noch nie miterlebt, wie die Käfige sich geöffnet oder geschlossen haben. Und jetzt habe ich es schon wieder verpaßt.“

„Was, glaubst du, war der Zweck dieser Käfige?“ fragte Rawlins.

„Gefährliche Tiere festzuhalten. Oder Gefangene einzusperren. Wofür sollte man einen Käfig sonst benutzen?“

„Aber wenn sie sich immer noch öffnen…“

„Die Stadt ist immer noch darum bemüht, ihren Bewohnern zu dienen. Und in den Außenzonen befinden sich Feinde. Diese Käfige stehen für den Fall bereit, daß einer dieser Feinde gefangen wird, oder mehrere.“

„Du meinst uns?“

„Ja, Feinde.“ Paranoide Wut glitzerte plötzlich in Mullers Augen auf. Es war erschreckend, wie rasch er von einem ganz normalen Gespräch in kalten Haß überwechseln konnte. „Homo sapiens. Das gefährlichste, erbarmungsloseste und verachtungswürdigste Tier im ganzen Universum.“

„Du sagst das so, als würdest du daran glauben.“

„Das tue ich auch.“

„Na, hör mal“, sagte Rawlins. „Früher hast du dein Leben dem Dienst an der Menschheit gewidmet. Da kannst du doch nicht einfach behaupten…“

„Ich“, sagte Muller langsam, „ich habe mein Leben dem Dienst an Richard Muller gewidmet.“ Er drehte sich um und sah Rawlins direkt ins Gesicht. Sie standen nur sechs bis sieben Meter auseinander. Die Ausstrahlung kam Ned so stark vor, als befände er sich direkt vor Mullers Nase. „Es war anders, als du es dir vielleicht vorgestellt hast, mein Junge“, sagte Muller. „Ich habe mir nicht so viel aus der Menschheit gemacht. Ich habe jedoch die Sterne gesehen, und dort wollte ich hin. Ich trachtete danach, ein Gott zu werden. Eine Welt genügte mir nicht. Ich wollte alle. Also habe ich eine Karriere eingeschlagen, die mich zu den Sternen bringen würde. Tausend Mal habe ich mein Leben riskiert. Ich habe unglaubliche Temperaturextreme durchgestanden, mir die Lungen mit höchst seltsamen Gasen versengt und mußte schließlich von innen her wieder ganz neu zusammengebaut werden. Ich habe Nahrung zu mir genommen, deren bloße Erwähnung dich schon würgen lassen würde. Kinder wie du haben mich verehrt, haben Poster von mir an die Wand gehängt und Hausarbeiten über meinen selbstlosen Einsatz für die Menschheit, über meinen unermüdlichen Wissensdurst geschrieben. Aber darüber will ich dir einmal die Augen öffnen: Ich bin wahrscheinlich so selbstlos gewesen wie Kolumbus, Magellan oder Marco Polo. Sie waren große und bedeutende Entdecker, ganz ohne Frage, aber sie suchten auch und vor allem nach hübschen Profiten. Der Profit, nach dem ich strebte, kam aus dem Herzen: Ich wollte ein Riesendenkmal, hundert Kilometer hoch. Ich wollte auf tausend Welten goldene Standbilder von mir. Kennst du dich in der Weltlyrik aus? Ruhm ist der Stachel, ist der Antrieb. Das endgültige Gebrechen eines jeden aufrechten Charakters. Von Milton. Kennst du auch die alten Griechen? Wenn ein Mann sich zu weit nach oben streckt, stoßen ihn die Götter hinab. Das nennt man Hybris. Und bei mir war es ein besonders schwerer Fall von Hybris. Als ich durch die Wolken zu den Hydriern hinabfloß, kam ich mir vor wie ein Gott. Herr im Himmel, ich war ein Gott. Und auch noch, als ich durch die Wolken wieder aufstieg. Für die Hydrier bin ich ganz sicher ein Gott gewesen. Zumindest habe ich das damals gedacht: Ich bin Bestandteil ihrer Mythen, man wird ewig von mir erzählen. Vom Gott, der verstümmelt war. Vom Gott, der Marter und Pein auf sich genommen hat. Das Wesen, das zu ihnen herabstieg und in dessen Nähe sie sich so unbehaglich fühlten, daß sie es ummodeln mußten. Aber…“

„Der Käfig…“

„Laß mich ausreden!“ platzte es aus Muller heraus. „Weißt du, ich bin gar kein Gott gewesen, sondern nur ein elendes, sterbliches menschliches Wesen, das sich der Verblendung hingab, gottgleich zu sein. Das ist die bittere Wahrheit. Und die echten Götter haben dafür gesorgt, daß ich meine Lektionen erhielt. Sie beschlossen, mich an den behaarten Affen zu erinnern, der unter dem Plastikanzug steckte. Um meinen Verstand bei seinen luftigen Höhenflügen an das tierische Gehirn zu erinnern, dem er entsprang. Also haben die Götter es so eingerichtet, daß die Hydrier etwas Seltsames mit meinem Kopf angestellt haben, eine ihrer Spezialitäten wahrscheinlich. Ich kann nicht einmal sagen, ob sie bloß aus einer Laune heraus bösartig waren oder ob sie ehrlich darum bemüht waren, mich von meinem Defekt zu befreien… von meiner Unfähigkeit, ihnen meine Gefühle offen zu zeigen. Aliens. Wer will schon wissen, was sie sich wirklich dabei gedacht haben. Fest steht nur, sie haben mich behandelt. Und dann kam ich zur Erde zurück. Held und Aussätziger in einem. Stell dich zu mir, und dir wird speiübel. Und warum? Weil mein Leiden dich daran erinnert, daß auch du nicht mehr als ein Tier bist. Von dieser Erinnerung bekommst du bei mir eine volle Dosis ab. Und so bewegen wir uns in diesem endlosen Feedback wie in einem Teufelskreis. Du haßt mich, weil du unangenehme Dinge aus deiner Seele über dich erfährst, sobald du mir zu nahe kommst. Und ich hasse dich, weil du ständig darum bemüht bist, von mir Abstand zu halten. In Wahrheit bin ich nämlich Träger einer Pest geworden, und diese Pest heißt Wahrheit. Meine Botschaft heißt: Die Menschheit kann sich glücklich preisen, daß alle ihre Gefühle im Schädel eingeschlossen sind. Denn wenn wir nur die Spur einer telepathischen Begabung besäßen, sei es auch nur so etwas Verwischtes, Sprachloses, wie ich es mit mir herumtrage, könnten wir einander nicht mehr ertragen. Eine menschliche Gesellschaft wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Die Hydrier können untereinander in ihren Köpfen lesen. Ihnen scheint es nichts auszumachen, im Gegenteil. Aber wir können das nicht. Aus diesem Grund behaupte ich auch, der Mensch ist das verachtungswürdigste Tier im ganzen Universum. Er kann nicht einmal den Geruch seiner eigenen Art ertragen, wenn zwei Seelen zusammenkommen!“

„Der Käfig scheint sich zu öffnen“, sagte Rawlins.

„Was? Wo?“ Muller lief an ihm vorbei. Da Rawlins nicht rasch genug beiseite treten konnte, traf ihn der Anprall der Ausstrahlung wie ein Keulenschlag. Dieses Mal war es nicht mehr ganz so schmerzhaft. Ned empfing Bilder vom Herbst: verwelkte Blätter, sterbende Blumen, staubige Winde, frühe Abenddämmerung. Mehr ein Bedauern als Seelenangst über die Kürze des Lebens, die Notwendigkeit der Einsicht. Mittlerweile starrte Muller ganz in Gedanken versunken auf die alabasterfarbenen Streben des Käfigs.

„Sie haben sich bereits einige Zentimeter zurückgezogen. Warum hast du nicht sofort Bescheid gesagt?“

„Ich habe es versucht, aber du hast nicht zugehört.“

„Ja, ja, mein verdammter Hang zu Monologen.“ Muller kicherte. „Ned, ich warte seit Jahren darauf, das zu sehen. Der Käfig in Aktion! Sieh nur, wie elegant sie sich bewegen und in den Boden gleiten. Merkwürdig, Ned, nie zuvor haben sie sich zweimal im gleichen Jahr geöffnet. Und jetzt zum zweiten Mal innerhalb einer Woche.“

„Vielleicht hast du die anderen Male ganz einfach verpaßt“, meinte Rawlins. „Möglicherweise hast du gerade geschlafen, als…“

„Das bezweifle ich. Sieh dir das an!“