„Das verstehe ich nicht.“
„Das brauchen Sie auch nicht“, sagte Boardman gelassen. „Entspannen Sie sich. Bis jetzt haben Sie Ihre Rolle sehr gut gespielt.“
Muller kehrte zurück und brachte einen Teller mit Fleisch sowie einen kunstvollen Kristallbecher voll Wasser mit sich. „Das Beste, was ich habe“, sagte er und schob ein Stück Fleisch durch die Gitterstäbe. „Von einem hiesigen Tier. Du ißt doch feste Nahrung, nicht wahr?“
„Ja.“
„Das dachte ich mir… in deinem Alter. Wie alt hast du gesagt, bist du? Fünfundzwanzig?“
„Dreiundzwanzig.“
„Noch schlimmer.“ Muller reichte ihm das Wasser. Es hatte einen angenehmen Geschmack, besser gesagt, ein gewohnter Beigeschmack fehlte. Muller saß schweigend vor dem Käfig und aß. Rawlins fiel auf, daß seine Ausstrahlung ihm jetzt nicht mehr so viel ausmachte, selbst bei einem Abstand von weniger als fünf Metern. Offensichtlich gewöhnte man sich daran, zumindest, wenn man es versuchte.
Nach einer Weile sagte Rawlins: „Würdest du mitkommen und dich mit meinen Kameraden unterhalten wollen… so in ein paar Tagen?“
„Völlig ausgeschlossen.“
„Sie würden sicher gern einmal mit dir reden.“
„Ich habe aber kein Interesse daran. Da würde ich mich schon lieber mit den wilden Tieren hier unterhalten.“
„Du sprichst doch auch mit mir“, merkte Ned an.
„Weil es für mich eine Abwechslung darstellt. Und weil dein Vater ein guter Freund von mir war. Und weil du, wie es manchmal bei den Menschen vorkommt, recht angenehm bist. Aber ich will mich nicht einem zusammengewürfelten Haufen nichtsnutziger, stieläugiger Archäologen aussetzen.“
„Und wenn du es erst einmal mit zweien oder dreien versuchst?“ schlug Rawlins vor. „Dich wieder daran gewöhnst, wie es ist, unter Menschen zu sein.“
„Nein.“
„Das verstehe ich nicht…“
Muller schnitt ihm das Wort ab. „Einen Moment mal. Warum sollte ich mich wieder daran gewöhnen, unter Menschen zu sein?“
Unbehaglich antwortete Rawlins: „Nun, einfach aus dem Grund, weil Menschen hier sind. Weil es sicher nicht richtig ist, sich völlig zu isolieren…“
„Willst du mich hereinlegen? Willst du mich zu packen bekommen und dann aus dem Labyrinth entführen? Nun aber mal im Ernst, mein Junge, heraus mit der Sprache: Welcher Gedanke steckt bei dir im Hinterkopf? Welches Motiv steht dahinter, mich auf das Zusammensein mit Menschen vorzubereiten?“
Rawlins zögerte. In dieses unangenehme Schweigen hinein meldete sich Boardman. Er sprach rasch, gab ihm die Gerissenheit ein, die der Junge vermissen ließ, soufflierte ihm. Rawlins hörte zu und bemühte sich.
„Du hältst mich wohl für einen durchtriebenen Ränkeschmied, was?“ sagte er. „Aber ich schwöre dir, ich führe nichts Unlauteres im Schilde. Ich gebe zu, ich wollte dich ein wenig weichklopfen, wollte dich aufheitern, wollte Freundschaft mit dir schließen. Aber ich schätze, jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich dir die Wahrheit sagen muß.“
„Das glaube ich auch!“
„Ich habe das für den Erfolg unserer Expedition getan. Wir können nur wenige Wochen hierbleiben. Aber du bist schon so viele Jahre hier… wieviele waren es noch, neun? Du weißt so viel über diesen Ort, Dick, und ich halte es einfach für unfair, dieses Wissen für sich zu behalten. Also kam ich in der Hoffnung hierher, dich auf unsere Seite zu ziehen. Zuerst solltest du mit mir Freundschaft schließen und danach vielleicht mit mir nach Zone E gehen, um dort mit den anderen zu reden, ihnen Antworten auf ihre Fragen zu geben und ihnen alles zu erzählen, was du über das Labyrinth weißt…“
„Es soll unfair sein, sein Wissen für sich zu behalten?“
„Auf jeden Fall. Es ist eine Sünde, mit dem Wissen hinter dem Berge zu halten.“
„Ist es denn fair von den Menschen, mich ekelerregend zu nennen und vor mir die Flucht zu ergreifen?“
„Das ist doch ein ganz anderes Problem“, sagte Rawlins. „Eins, das jenseits aller Fairneß liegt. Es handelt sich dabei um den Zustand, in dem du dich befindest. Ein bedauerlicher Zustand, zugegeben, den du nicht verdient hast. Jedermann bedauert es natürlich, daß dir so etwas zugestoßen ist. Aber auf der anderen Seite mußt du dir auch einmal klarmachen, daß es vom Standpunkt anderer Personen nicht eben leicht ist, unvoreingenommen deinem… deinem…“
„Seelischen Gestank gegenüberzutreten“, führte Muller den Satz zu Ende. „Richtig. Es ist nicht leicht, meine Gegenwart zu ertragen. Daher bin ich gewillt, deine Freunde nicht diesem Übel auszusetzen. Schlag dir das aus dem Kopf: Ich werde weder mit ihnen reden noch nett bei einer Tasse Tee mit ihnen plaudern. Ich will einfach nichts mit ihnen zu tun haben. Ich habe mich von der menschlichen Rasse abgenabelt und will es dabei auch belassen. Und dabei ist es ganz irrelevant, ob ich dir das Privileg gewähre, mich zu belästigen oder nicht. Wo wir gerade schon dabei sind, möchte ich dir ins Gedächtnis zurückrufen, daß dieser unglückliche Zustand mich nicht unverdient getroffen hat. Er kam zu Recht über mich, als ich meine Nase in Dinge gesteckt habe, die mich nichts angingen. Indem ich mich für einen Übermenschen hielt, dem so etwas doch gestattet sei. Hybris eben, aber das sagte ich ja schon.“
Boardman hatte Ned die ganze Zeit über weiter instruiert. Rawlins, dem die Lügen einen ekligen Geschmack auf der Zunge bereiteten, antwortete: „Ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen, wenn du so verbittert bist, Dick. Aber ich halte es immer noch für falsch, wenn du uns dein Wissen vorenthältst. Denk doch einfach an die Tage zurück, als du selbst von Welt zu Welt geeilt bist. Wenn du damals auf einem Planeten gelandet wärst und jemand hätte über lebenswichtige Informationen verfügt, deretwillen du diese Welt überhaupt erst angeflogen hättest, würdest du da nicht auch jede Anstrengung in Kauf genommen haben, sie von ihm zu bekommen? Selbst wenn dieser Jemand mit bestimmten persönlichen Problemen zu kämpfen gehabt hätte?“
„Tut mir leid“, sagte Muller frostig. „Aber das ist mir vollkommen egal.“ Er lief davon und ließ Rawlins allein mit zwei Stücken Fleisch und einem fast leeren Becher Wasser im Käfig zurück.
Als Muller nicht mehr zu sehen war, meldete sich Boardman: „Das ist vielleicht eine Mimose, was? Doch ich habe von ihm auch nicht erwartet, daß er vor Freundlichkeit zerfließen würde. Aber Sie haben ihn schon ziemlich gut angepackt, Ned. Sie besitzen wirklich die ideale Mischung aus Verschlagenheit und Naivität.“
„Und ich befinde mich in einem Käfig.“
„Das stellt kein Problem dar. Wir können immer noch eine Drohne schicken, die Sie befreit, falls der Käfig sich in der nächsten Zeit nicht öffnet.“
„Es klappt nicht mit Muller“, murmelte Rawlins. „Er steckt voller Haß. Der sickert ihm aus jeder Pore. Wir schaffen es nie, ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen. Ich habe noch nie einen solchen Haß bei einem Menschen erlebt.“
„Sie haben ja auch noch nicht viel von der Welt gesehen“, sagte Boardman. „Und weder Sie noch er wissen, was wirklicher Haß ist. Ich versichere Ihnen, alles läuft bestens. Wir haben von vornherein einige Rückschläge einkalkuliert. Doch allein schon der Umstand, daß er überhaupt mit Ihnen redet, wiegt im Moment alles andere auf. Er will doch gar nicht so voller Haß sein. Geben Sie ihm einfach die Chance, seine Verbitterung abzulegen, und schon wird er es tun.“
„Wann schicken Sie die Drohne, um mich hier herauszuholen?“
„Später“, sagte Boardman. „Falls es sich überhaupt als notwendig erweisen sollte.“
Muller kehrte nicht zurück. Der Nachmittag ging langsam in den Abend über. Ein kühler Wind kam auf. Rawlins kauerte sich in eine Ecke, aber gemütlicher wurde es dadurch nicht. Er versuchte, sich die Stadt vorzustellen, als sie noch von Leben erfüllt gewesen war. Als dieser Käfig dazu gedient hatte, Wesen festzuhalten, die man im Labyrinth gefangengenommen hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er den Strom der Stadterbauer: kurzgewachsen und stämmig, mit dichtem, kupferfarbenem Fell und einer grünlichen Haut. Sie schwangen ihre langen Arme und zeigten damit auf den Käfig. Dort drin befand sich ein Wesen, das wie ein Riesenskorpion aussah. Mit Klauen, die wie Wachs glänzten und über die Steinplatten auf dem Boden kratzten. Mit wilden Augen und einem wütend peitschenden Schwanz, der jedem gefährlich wurde, der dem Käfig zu nahe kam. Eine eigenartige, grelle Musik tönte durch die Stadt. Fremdes Gelächter von fremden Wesen. Der warme, moschusartige Geruch der Stadterbauer. Kinder, die das Ding im Käfig anspuckten. Speichel wie Feuer. Helles Mondlicht, tanzende Schatten. Ein gefangenes Wesen, furchtbar anzusehen und bösartig. Es war allein, das einzige seiner Art auf dieser Welt. Sein heimatlicher Stock stand auf einem Planeten des Sterns Alphecca oder Markab, wo weitere Wesen mit Schwanz und wachsartig glänzenden Klauen durch glitzernde Tunnel krabbelten. Tagelang kamen die Stadterbauer vor dem Käfig zusammen, verhöhnten das Wesen und schmähten es. Ihre plumpen Körper, ihre ineinander verschlungenen, spinnenartigen Finger, ihre flachen Gesichter und ihre häßlichen Hauer widerten die Kreatur im Käfig an. Und dann kam der Tag, an dem sich der Boden des Käfigs öffnete, denn die Stadterbauer langweilte ihr Gefangener von einer anderen Welt. Und das Wesen stürzte hinab. Während es noch wütend mit dem Schwanz um sich schlug, landete es in einer Messergrube.