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Aber wer waren dann diese Eindringlinge?

Archäologen, vermutete er. Die Ruinenstadt von Lemnos übte noch immer eine magnetische, fatale Faszination auf sie aus… nicht nur auf sie, auf alle. Muller hatte gehofft, die Gefahren des Labyrinths würden die Menschen fernhalten. Vor über einem Jahrhundert hatte man es entdeckt, aber vor seiner Ankunft Lemnos lange Jahre gemieden. Und das aus gutem Grund: Muller hatte mehrere Male die Leichen derjenigen gesehen, die versucht hatten, das Labyrinth zu betreten, und dabei gescheitert waren. Teilweise hatten ihn selbstmörderische Absichten hierher getrieben, zum anderen hatte er natürlich auch seine übergroße Neugierde befriedigen, hineingelangen und das Geheimnis des Labyrinths lösen wollen, auch aus dem Wissen heraus, daß er im Falle eines erfolgreichen Durchkommens nicht allzu viele Störungen seiner Zurückgezogenheit zu befürchten hatte. Jetzt befand er sich mitten im Labyrinth, trotzdem waren Störenfriede gekommen.

Aber sie werden nicht hineingelangen, beruhigte sich Muller.

Geschützt und geborgen im Herz des Irrgartens sitzend, hatte Muller genügend Beobachtungs- und Überwachungsinstrumente zur Verfügung, um, wenn auch teilweise vage und verschwommen, die Manöver aller lebenden Wesen außerhalb der Mauern zu verfolgen. Er war damit auch in der Lage, die interzonalen Wanderungen der Tiere zu beobachten, die seine Beute werden sollten, und auch die der riesigen Lebewesen, denen er nicht zu nahe kommen durfte. In bescheidenem Umfang konnte Muller sogar die Fallen des Labyrinths kontrollieren. Normalerweise handelte es sich bei ihnen um passive Anlagen. Aber unter gewissen Voraussetzungen konnte man sie in aggressive Tötungsvorrichtungen umwandeln und gegen jeden Feind einsetzen. Mehr als einmal hatte Muller ein elefantengroßes Raubtier in eine unterirdische Fallgrube gelockt, nachdem es sich bis in Zone D vorgewagt hatte. Er fragte sich nun, ob er diese Verteidigungsanlagen auch gegen Menschen einsetzen wollte, sobald sie so weit vordringen würden. Aber er konnte sich darauf keine Antwort geben. In Wirklichkeit haßte er seine eigene Rasse nicht, er zog es nur vor, allein zu bleiben, für sich zu sein, in Ruhe gelassen zu werden.

Er warf einen Blick auf die Bildschirme. Muller befand sich in einer schmucklosen, sechseckigen Kammer — offensichtlich eine ehemalige Wohneinheit im Stadtkern —, von der eine Wand mit Panoramascheiben bestückt war. Er hatte mehr als ein Jahr gebraucht, bis er herausgefunden hatte, welche Teile des Labyrinths mit den Bildern auf den Monitoren korrespondierten. Nachdem er geduldig Kennzeichen ausgemacht und immer neue Markierungspunkte gesetzt hatte, war es ihm gelungen, die matten Abbildungen mit der sonnenhellen Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Die sechs unteren Bildschirme zeigten ihm Ausschnitte aus den Zonen A bis F. Die Kameras, oder was auch immer dahinter stecken mochte, umfaßten einen Bereich von 180° und ermöglichten so den versteckten, geheimnisvollen Augen, die gesamte Region rund um die jeweiligen Zoneneingänge zu überwachen. Da nur ein einziger Eingang sicheren Zugang zu der dahinterliegenden Zone ermöglichte und alle anderen Todesfallen waren, gestatteten die Bildschirme Muller eine effektive Observierung des Vordringens eines jeden umherstreifenden Lebewesens. Es spielte gar keine Rolle, was sich im einzelnen an den Scheineingängen abspielte — jeder, der es dort versuchte, mußte sterben.

Die darüber liegenden Schirme sieben bis zehn übertrugen wahrscheinlich Bilder von den Zonen G und H, den äußersten, weitflächigsten und gefährlichsten im Labyrinth. Muller verspürte keine Verlangen, diese Bereiche noch einmal aufzusuchen, um die Richtigkeit seiner Annahme im Detail zu überprüfen. Ihm reichte es zu wissen, daß diese Monitore Ausblicke auf bestimmte Stellen in den äußeren Zonen gestatteten. Und das Risiko, wieder in diese Zonen einzudringen, um dort genauer festzustellen, was das für bestimmte Stellen waren, war ihm zu groß. Schirm elf und zwölf schließlich zeigten offensichtlich Ausschnitte von der Ebene, die den Irrgarten rundum umgab. Von der Ebene, auf der das Sternschiff von der Erde gelandet war.

Kaum ein anderes von den antiken Erbauern zurückgelassenes Gerät im Labyrinth war ähnlich leicht zu verstehen. Auf einem Podium in der Mitte des Zentralplatzes der Stadt befand sich, abgeschirmt von einem Kristallgewölbe, ein zwölfseitiger, rubinfarbener Stein, in dessen Innern ein raffinierter Mechanismus tickte und pulsierte, der an ein Schloß erinnerte. Muller hielt das Ganze für eine Art Uhr, die von nuklearen Schwingungen angetrieben wurde und die Zeiteinheiten verkündete, nach denen sich ihre Erbauer richteten. Periodisch durchlief der Stein Veränderungen: Seine Außenfläche wurde matt und Ton um Ton immer dunkler, bis sie blau oder sogar schwarz war, und er drehte sich auf seiner Achse. Mullers sorgfältige Aufzeichnungen hatten ihm noch keinen Hinweis auf die Bedeutung dieser Veränderungen geben können. Es gelang ihm nicht einmal, die Periodenfolge zu bestimmen. Die Metamorphosen vollzogen sich nicht willkürlich, aber das Muster, dem sie folgten, entzog sich seinem Verständnis.

An den acht Ecken des Platzes standen acht glatte und spitze Metallpfeiler, die bis in eine Höhe von etwa sechs Metern aufragten. Sie drehten sich im Jahreszyklus in versteckten Lagern, bildeten also anscheinend einen Kalender. Muller wußte, daß sie mit jedem dreißigmonatigen Umlauf des Planeten Lemnos um seinen düster orangeroten Zentralstern eine ganze Umdrehung vollführten. Aber er vermutete einen tief erliegenden Zweck bei diesen schimmernden Pfeilern. Die Suche danach nahm einen großen Teil seiner Zeit ein.

Die Straßen der Zone A waren mit ordentlichen Käfigreihen aus Streben gesäumt, die aus einem alabasterartigen Gestein gehauen waren, Muller entdeckte keine Möglichkeit, diese Käfige zu öffnen. Doch zweimal während seines hiesigen Aufenthalts hatte er nach dem Erwachen festgestellt, daß die Streben zurückgezogen und im steinernen Straßenbelag verschwunden waren. Die Käfige standen weit offen. Beim ersten Mal waren sie drei Tage lang geöffnet gewesen. Dann waren die Streben, während Muller schlief, wieder ausgefahren worden, hatten die Käfige wieder verschlossen und zeigten keine Naht an den Stellen, wo sie sich gelöst hatten. Als die Käfige sich wenige Jahre später wieder öffneten, ließ Muller sie keinen Moment aus den Augen, um hinter das Geheimnis dieses Mechanismus zu kommen. Aber in der vierten Nacht nickte er kurz, aber trotzdem lange genug ein, um den Schließprozeß wieder zu verpassen.

Als ähnlich mysteriös erwies sich auch der Aquädukt. Durch die gesamte Länge von Zone B lief eine Rohrleitung, möglicherweise aus Onyx. In regelmäßigen Intervallen von fünfzig Metern waren dort viereckige Wasserspeier angebracht. Hielt man irgendein Gefäß darunter, selbst eine hohle Hand reichte schon, spien sie reines Wasser aus. Aber wenn Muller versuchte, mit einem ausgestreckten Finger in den Wasserspeier einzudringen, fand er dort weder eine Öffnung, noch konnte er irgendwo eine entdecken, sobald das Wasser ausfloß. Es war ganz so, als käme die Flüssigkeit durch einen durchlässigen Steinpfropfen, obwohl Muller das kaum glauben konnte. Doch war er andererseits dankbar für das frische Wasser.