»Pardon, meine Herren, ich dachte nicht zu stören«, sagte Frau Borromeo. »Das ist also der Neffe«, fuhr sie fort, trat rauschend näher, streckte Arnold die Hand entgegen und lächelte: sorglos, mütterlich, voll Teilnahme, etwas spöttisch, — alles zu gleicher Zeit mit einer unbeschreiblichen Mischung von Belebtheit und Ruhe. Indem sie eintrat, so schien es, hatte sie alles zu ihrem Eigentum gemacht, die Wände, die Möbel, das Licht, die Luft und die beiden Männer. Arnold vergaß, ihre Hand zu ergreifen. Sie lachte, schüttelte den Kopf und fragte Borromeo, ob er zum Tee komme. Als er verneinte, erwiderte sie, er möge ihr Arnold überlassen, der doch von der Reise ausgehungert sein werde. »Ich warte schon mit Ungeduld auf Sie — oder auf dich«, sagte sie zu Arnold. »Ich war auf eine Art von Waldmenschen gefaßt und bin es noch. Natürlich im edelsten Sinn. Aber damit wollen wir jetzt keine Zeit verlieren. Hier laß ich unterdes alles instand setzen; ich habe ja erst heute früh erfahren — Kommen Sie, … komm, Arnold.«
All das wurde mit vollendeter Betonung gesprochen, mit einem Wechsel des Ausdrucks, dem sich jedes Wort anschmiegte wie dem Körper ein musterhaft gefertigtes Kleid. Arnold folgte der Hausfrau in den Korridor, dann ein Stockwerk tiefer und trat hinter ihr in ein großes, lichtes Zimmer. An einem mit Tassen, Gläsern, Silbergeschirr, Blumen und Eßwaren bedeckten Tisch saßen plaudernd drei Personen, ein junges Mädchen, welches von Frau Borromeo als Petra König vorgestellt wurde, ein alter Herr mit einem kropfartig verdickten Hals, Baron Drusius, und ein junger, blonder, blasser Mann namens Hyrtl, der durch eine fast puppenhafte Sorgfalt seines Anzugs auffiel. Dieser Mann blickte sofort wie geblendet auf Arnolds graue Joppe, auf seinen altmodischen Kragen, auf seine schweren, großen Stiefel und ein humoristisches Lächeln umzuckte die farblosen Lippen.
»Nun haben wir unsern Waldmenschen glücklich hier«, sagte Frau Borromeo, indem sie spöttisch lächelte, als belustigte sie die Verwunderung ihrer Gäste. »Ich erzählte Ihnen ja von ihm«, wandte sie sich zu Hyrtl.
Baron Drusius knackte mit den Fingern und fragte mit einer Teilnahme, die Arnold unerklärlich war: »Sie sind Landwirt?«
»Bis jetzt war er Landwirt«, fiel Anna Borromeo ein.
Hyrtl, der den Ankömmling für dumm und blöde hielt, starrte Arnold mit einer Miene an, die immer humorvoller wurde. Seine Lippen zuckten von verhaltenem Witz. Er bemühte sich vergeblich, zu ergründen, weshalb Anna Borromeo den merkwürdigen Menschen in ihren Salon geführt und gab schließlich ihrer Sucht nach Überraschungen die Schuld.
»Sie sind wohl geschäftlich in der Stadt?« fragte der unermüdliche Drusius wieder, der Frau Borromeo einen Gefallen zu erweisen glaubte, wenn er sich mit dem stummen Gast beschäftigte.
»Seine Mutter ist gestorben«, bemerkte Anna Borromeo abermals an Arnolds Stelle. Es war, als fürchte sie Arnolds Antwort. Sie schenkte Petra König Tee ein, und eine senkrechte Falte zeigte sich zwischen ihren Brauen. »Wie geht es eigentlich Ihrer Schwester Natalie?« fragte sie das junge Mädchen.
»Gut«, entgegnete Fräulein Petra mit verdecktem Blick und mit jenem nachsichtigen Spott, der nur in ihrem Gesicht lag, wenn von Natalie gesprochen wurde.
»Ein ganz köstliches Weibchen«, meinte Drusius und schnalzte mit der Zunge. »Ein Rokoko-Figürchen, ein Sprühgeist. Für dieses Frauchen könnte ich eine Heldentat verrichten.«
Hyrtl sah gelangweilt aus. Seine Augen ruhten schwermütig-messend auf
Anna Borromeo.
»Wie stehen die Montan-Papiere?« fragte ihn Frau Anna lächelnd und tippte mit der Fingerspitze eine Brotkrume von ihrem Kleid.
»Schlecht«, antwortete Hyrtl. »Wir können uns auf einen großen Börsenkrach gefaßt machen.« Er legte den Knöchel des einen Beines auf das Knie des andern, schob die Hose ein wenig hinauf, so daß über den Lackstiefeln ein Stück des violett-seidenen Strumpfes sichtbar wurde, zog mit leichter Gebärde eine goldene Zigarettendose aus der Tasche und fragte mit Höflichkeit die Wirtin, ob er rauchen dürfe. Er blickte dabei Frau Borromeo tief und traurig in die Augen, so daß Arnold sehr erstaunt war, als er die Worte vernahm, die diesen Blick begleiteten. Zugleich sah er, daß Petra Königs Blicke auf ihn selbst gerichtet waren, daß sie die Augen, die einen wärmeren, ruhigeren Glanz angenommen hatten, erschreckt wieder abwandte und mit leerem Lächeln nach einer Bäckerei auf der silbernen Schale griff.
Arnold musterte das Zimmer, die Tapeten, die Teppiche, die Bilder und hörte mehr und mehr erstaunt der schnell von einem Gegenstand zum andern schweifenden Unterhaltung zu. Als er den Tee, dem er sehr viel Milch zugegossen, ausgetrunken hatte, erhob er sich, stellte seinen Stuhl nahe vor den Tisch, dankte und fügte hinzu: »Jetzt will ich mich waschen.« Damit verließ er den Salon mit unbefangenem Gesicht.
Zuerst entstand ein peinliches Schweigen. Dann lächelte Anna Borromeo, darauf lächelte auch Emerich Hyrtl und stemmte die Arme auf die Hüften. Es lächelten auch Drusius und Petra König. Dann blies Hyrtl die Backen auf und verfiel in einen wahren Lachkrampf, aus dem er schließlich die Beteuerung hervorächzte, er habe sich nie so göttlich unterhalten. Anna Borromeo drohte ihm scherzhaft mit dem Finger.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Arnold suchte die ihm zugewiesenen Zimmer auf. Im Vorraum seiner Wohnung stand der Diener und sagte, er erwarte die Befehle des jungen Herrn. »Was für Befehle?« fragte Arnold und blieb stehen. Der Diener lächelte und blickte Arnold aufmerksam an. »Gehn Sie nur«, sagte Arnold und wartete, bis der Mann die Türe geschlossen hatte. Welch ein sonderbarer Aufenthalt, dachte er, als er durch die Zimmer ging und die kostbaren Tapeten besah, die schweren Vorhänge, die Bilder, Vasen, Teppiche, Möbel und Bücher. Er riß das Fenster auf, und es wurde ein wenig heller und frischer. Die Gasse war eng. Er schaute hinab und erstaunte über die Höhe, erstaunte über die Nähe der gegenüberliegenden Häuser und ihre endlosen Reihen von Fenstern, die alle geschlossen waren. Er schaute empor und sah nur ein geringes Stück des abendlich verdämmernden Himmels. Ein Flug Vögel zog mit Kreischen geschwind über die Dächer.
Während dieser Beobachtungen spürte er großen Hunger. Er überlegte nicht lange, nahm den Hut, verließ seine Wohnung, eilte auf die Straße und suchte das nächste Wirtshaus. Bald fand er eine kleine Kutscherkneipe, bestellte Wein, Wurst und Käse und aß mit Appetit. Viele Männer saßen in dem raucherfüllten Raum, schimpften, politisierten, schrien, lachten und spielten. Als Arnold satt war, bezahlte er und ging. Er beschloß, einen Spaziergang durch die Straßen zu unternehmen, aber vorsichtig, wie er war, kehrte er zuerst zurück und prägte genau die Gasse und das Borromeosche Haus seinem Gedächtnis ein. Kaum hatte er dies stille Seitental verlassen, als er im Nu in einen eilenden Menschenstrom geriet. Die Abend-Dunkelheit wurde durch das blendende Licht aus den hohen, weißen Lampen gänzlich zerstreut. Aus allen Läden, aus jedem Fenster der schönen Paläste drang Licht, und die Nacht über den Dächern war wie eine feste Decke. Als Arnold sich inmitten der unabsehbaren, beständig sich erneuernden Menge befand, glaubte er zuerst, das Geräusch, das zu ihm floß, sei ein gleichmäßiges, ängstliches Raunen. Denn es war nicht laut und nicht leise; es war weder Reden noch Schreien. Oft klang es wie minutenlang hintereinander ausgehauchte tiefe Seufzer, oft wie fernes Gelächter; nichts hielt Stand, alles rauschte gleich einem schwerflüssigen Wasser dahin. Arnold ging dicht an der Seite der Häuser und kam nur langsam vorwärts. Er ermüdete nicht, Gesichter zu betrachten; er wurde nicht satt, den Ausdruck der Augen zu erhaschen. Einer blickte vorsichtig und spähend vor sich hin, einer redete gereizt, einer ging müde. Jeder schien eine Maske zu tragen und zwischen unsichtbaren Wänden zu gehen.