»Ich brauche zehntausend Gulden, heute noch«, sagte die Frau und sah ihm starr in die Augen.
»Zehntausend Gulden! Donnerwetter, das ist viel«, rief er aus. »So viel hab ich in meinem ganzen Leben nicht gebraucht.«
»Ich habe eine drückende Börsenschuld. Ich habe unglücklich spekuliert. Dein Onkel darf nichts davon erfahren. Ich verlange natürlich kein Geschenk von dir. In drei bis vier Wochen werde ich dir’s zurückgeben.«
»Ah so!« sagte Arnold.
»In gewissem Sinn hast du mein Schicksal in der Hand«, fuhr Anna fort. Sie erhob sich und schritt, immer noch mit verschränkten Armen, auf und ab. Dann blieb sie neben ihm stehen. Er blickte empor und sah das weiße Kinn, den roten Mund und einen feindseligen Blick ihrer Augen. Da erhob er sich, trat zum Tisch, riß ein Blatt aus dem Anweisungsbuch für die Bank, das er in der Tasche trug, nahm die Feder und schrieb.
Er reichte Anna Borromeo den Scheck; sie dankte und er ging. In seinem Zimmer angelangt, öffnete er die Fenster, setzte sich rittlings auf einen Stuhl und schaute nachdenklich in die Luft.
Achtundzwanzigstes Kapitel
Von den Büchern, mit denen sich Arnold neuerdings beschäftigte, machten die juristischen einen großen Teil aus. Er las sie mit Scharfsinn und Aufmerksamkeit. Aber dabei Wissenschaft zu gewinnen, war nicht leicht und von einer glatten Straße sah er sich bisweilen in eine Wildnis verschlagen. Er erkannte dann stets, daß es gefährlich sei, den Weg fortzusetzen und fing wieder am Anfang an. Damit war eine gewisse Ermüdung verknüpft, und er griff zu etwas Neuem, um nach einer andern Richtung, auf einer andern Bahn alsbald von neuem unberaten im fremdesten Gebiet sich zu finden. Allmählich wurde es ihm schwer, die Ordnung zu bewahren, nach außen und nach innen. Er wußte nicht, ob das Leere wirklich leer sei und das Unverständliche nur ihm allein unverständlich. Nicht selten tauchte er in ein finsteres Wasser hinab, um mit Geringschätzung wahrzunehmen, wie leicht der Schein von Tiefe zu vernichten sei. Aber vergebens suchte er Grenzen zu ziehen. Wie in dunklen Nächten manchmal die Gegend eine schreckliche Weite zu haben scheint und zugleich eine undurchdringliche Abgeschlossenheit, so geschah es hier. Er griff dahin und dorthin; Schwieriges erschien leicht, das Leichte unüberwindlich. Jeden Gedanken an Beistand schloß er vorläufig mit sonderbarem Starrsinn aus; er war der Meinung, daß keine fremde Weisung ihm die Dienste des eigenen Instinktes leisten konnte.
Manchmal nahm er zu Dichtungen seine Zuflucht. Aber das Farbig-Täuschende, ja sogar das Bildhafte erregte sein Mißtrauen, auch wo ein Meister schuf. Was mit Kunst zusammenhing, nahm er nicht sehr ernst, schon weil er das Element der Gestaltung nicht zu würdigen vermochte und er den Werken des Geistes naiv ihren unmittelbaren Nutzen abfragte.
Er griff nach Zeitungen, um auf solche Art das Wirkliche an sich zu pressen. Torheit, Verbrechen, Wahnsinn und Verzweiflung boten sich nun in kalter Nähe und Trockenheit. Was Geschwätz und Schiefheit war, mußte abgestreift werden. Vom Politischen blieb nur Lüge, Hader und Täuschung; oder Namen: Gott, Vaterland, Kirche, Freiheit, Güterverteilung. Eine Zeitlang irrte Arnold zwischen Phrasen wie ein Gefangener umher. Er wollte das Festeste ergreifen, das ihm erreichbar war, und so kam er zur Zahl und ihrer Wissenschaft. In seinem Sinn schien es heller zu werden. Pforten, denen Licht entstrahlte, öffneten sich, durch eine Formel gesprengt. Wie die Sehne des Bogens nach jeder Spannung in ihre natürliche Lage zurückkehrt, so erschlaffte weder, noch überspannte sich sein Geist bei solcher Arbeit. Aber er überschätzte das Licht; er überschätzte die Klarheit, in welcher die Dinge demjenigen sich zeigen, der seine innere Flamme zur Beleuchtung nach außen verwendet.
Es war ein regnerischer Tag; am Abend sollte die Gesellschaft bei Pottgießer sein, zu der Arnold geladen war. Gegen vier Uhr brachte der Diener eine Karte mit dem Namen Maxim Spechts.
Specht trat ein, noch eleganter gekleidet als neulich, sorgfältig rasiert und frisiert, lächelnd und liebenswürdig. Er schilderte alsbald das Leben, das er jetzt führte, und mit innerer Unsicherheit versuchte er es, die Vergangenheit mit der Gegenwart in einen geistigen Einklang zu bringen. Aber wenn jemand einen allzu vollen Becher trägt, kann er nicht gut verbergen, daß seine Hand von der überquellenden Flüssigkeit benetzt worden ist. Arnold war nachdenklich. Er fragte sich umsonst, weshalb Specht gekommen sei; er fragte sich, was aus dem sozialistischen Schullehrer geworden sei, der so großen Jammer mit dem Elend des Volkes empfunden hatte.
»Sie scheinen viel zu lesen«, bemerkte Specht, auf die zahlreichen Bücher blickend, die auf dem Tisch lagen. »Übrigens kann ich Ihnen einen Roman empfehlen, den ich jetzt gelesen habe. Ich will Ihnen das Buch leihen. Es ist eine geistreiche Satire auf unsre heutige Gesellschaft.«
Arnold schüttelte den Kopf. »Ich brauch’ das nicht,« erwiderte er abwehrend. »Das Geistreiche schmeckt mir nicht. Romane les’ ich nicht. In den Romanen erbleichen die Leute zu oft.«
Specht meckerte. »Köstlich«, sagte er.
»Wie geht es Ihnen bei Ihrer Zeitung?« fragte Arnold.
»O, ausgezeichnet. Ich habe mir eine angesehene Stellung gemacht. Ich sage Ihnen, Arnold, ich habe Dinge gesehen und Menschen kennen gelernt, von denen ich mir früher in meiner Schullehrerweisheit nichts habe träumen lassen. Es ist doch was Herrliches um so eine Großstadt.«
»Ja, das haben Sie immer behauptet.«
»Und finden Sie das nicht?«
»Es ist mir zu viel, vorläufig. Ich muß mich erst hineinleben.«
»Was mich betrifft, so tanze ich von einem Vergnügen ins andere. Kostet aber auch teuflisches Geld; besonders die Weiber. Weiber gibt es hier, Arnold!« Er schnalzte mit der Zunge. »Ich brauchte nur einen reichen Verwandten oder Freund,« fuhr er fort, »und ich würde es bis zum Minister bringen.«
Der Zusammenhang der Argumente entging Arnold.
Specht verabschiedete sich mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen; er habe was auf dem Herzen, fügte er hastig hinzu.
Arnold stand am Fenster und sah ihn auf der Straße in einen eleganten Wagen steigen, der vor dem Haus gewartet hatte. Ei, dachte er, dem muß es gut gehen.
Der Diener kam mit einer Anfrage von Doktor Borromeo herauf, ob Arnold am Pottgießerschen Abend teilnehmen würde. Arnold bejahte. Dieser Abend stellte sich ihm nicht als Vergnügen dar, sondern er betrachtete ihn ernsthaft als einen Teil seiner Aufgaben.
Als Borromeo Arnolds Antwort erhalten hatte, ging er in das Zimmer seiner Frau. Leise trat er ein, als ginge er auf den Fußspitzen. Anna saß lesend am Fenster. Ein blasses, sommerfleckiges Fräulein kämmte ihr das Haar. Der Doktor stutzte und wollte sich wieder entfernen.
»Hast du mir etwas zu sagen, Friedrich?« fragte Frau Borromeo sanft. »Geben Sie acht, Lina, Sie tun mir weh,« wandte sie sich an das Fräulein und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.
»Ich wollte dich nur verständigen, Anna, daß es mir unmöglich ist, zu Pottgießer zu gehen,« sagte der Doktor.
»Berufspflichten?« spottete Anna Borromeo, ohne den geringsten Verdruß zu zeigen. »Dann wird mir nichts übrig bleiben als ohne dich zu gehen,« fügte sie kalt hinzu.
Borromeo zuckte die Achseln und sah einer umhersummenden Biene nach. Er stand wie ein untertäniger Auftragnehmer an der Türe.
»Dein Neffe wird mich führen, denke ich,« sagte Anna stirnrunzelnd.
Der Doktor bejahte.
»Er zeigt überhaupt glänzende Talente zum Gesellschaftsmenschen,« fuhr sie fort. »Ich muß gestehen, daß ich nach deiner Schilderung etwas anderes erwartet habe. Ich habe einen Himmelsstürmer erwartet und sehe nichts als einen stillen, jungen Mann, der sich ganz artig anzupassen versteht.«
Das Frisierfräulein war fertig und empfahl sich. Doktor Borromeo begann langsam auf und ab zu gehen und sich den Bart zu streichen. »Ich habe keinerlei Verantwortung dafür übernommen, bis zu welchem Grade du dich an Arnold amüsieren kannst,« sagte er endlich. »Wenn du an ihm nicht mehr findest, als er dir zeigt, so kann es dir gehen wie dem reichen Mann mit Jesus Christus. Wir sind nie erbärmlicher, als wenn wir auf etwas herunterzublicken glauben, was hoch über uns steht.«