Выбрать главу

Eine Stimme klang in seinem Ohr, die ihm diese Anerkennung zu versprechen schien und deren Widerhall nicht erlöschen wollte.

Eines Nachmittags entschloß er sich plötzlich, Verena Hoffmann aufzusuchen. Als er vor der Wohnungstür stand, zögerte er eine Weile, bevor er auf den elektrischen Knopf drückte. Als es läutete, hatte er das Gefühl, über seine Zukunft entschieden zu haben.

Verena selbst öffnete. Sie war sichtlich verwundert, ihn zu sehen, hieß ihn jedoch eintreten. Er kam in ein ziemlich großes Zimmer; es schien ihm, als sähe er es zum erstenmal. Überall lagen Bücher umher, an den Wänden, auf dem Tisch, auf Bett und Stühlen und auf dem Boden. In einem Winkel stand ein menschliches Skelett, in einem anderen Winkel ein kleiner Sparherd, auf welchem Wasser kochte. Daneben befand sich eine Art Anricht, worauf ein Hohlspiegel stand, ein Mikroskop, eine Retorte, Flaschen, zwei Krautköpfe und ein Laib Brot. Arnold betrachtete all dieses mit Verwunderung und mußte schließlich lächeln. Das junge Mädchen schaute halb gespannt, halb verdrießlich in sein Gesicht, das auf sie einen Eindruck von Vierschrötigkeit und Hausbackenheit machte. »Womit kann ich dienen?« fragte sie mit einer hellen deutlichen Stimme und etwas ausländischer Betonung.

»Erinnern Sie sich nicht, ich war ja mit Herrn Hyrtl neulich bei Ihnen,« antwortete Arnold unbefangen. »Ich heiße Ansorge, Arnold Ansorge.«

Verena machte große Augen. Der seltsame Besucher fing an, sie zu belustigen. Sie forderte ihn durch eine Geberde auf, Platz zu nehmen und setzte sich ebenfalls.

»Ich dachte mir gleich,« begann Arnold zutraulich, »daß Sie fragen würden, warum ich käme und daß ich nicht antworten könnte. Ich will einen Vorschlag machen. Denken Sie doch, daß wir schon lange bekannt wären und daß Sie mich heute erwartet hätten.«

Das junge Mädchen wendete mechanisch die Blätter eines Buches um, das auf dem Tisch lag. »Wenn ich Ihnen jetzt antworten würde, wie Sie es wünschen,« sagte sie, ohne den Kopf zu bewegen, der zu dem offenen Buch geneigt war, »dann würde ich Sie belügen. Ich weiß nicht, was Sie gerade hierher treibt; vielleicht ein Straßeninteresse. Ich habe wenig Zeit, sehen Sie, und ich will wenig Zeit haben. Nur was mir nützt, kann ich in mein Leben aufnehmen.«

Arnolds Gesicht rötete sich. »Da führen Sie aber ein trauriges Leben,« entgegnete er schnell.

Verena Hoffmann zuckte die Achseln und machte eine unbestimmte Geberde gegen die überall verstreuten Bücher. Sie schien nicht aufgelegt, sich in Erörterungen einzulassen. Langsam, mit wiegendem, gedankenvollem Schritt ging sie hinter dem Tisch auf und ab, berührte zerstreut einige Gegenstände mit der Hand und schielte bisweilen mit Erstaunen auf den Besucher, der keine Anstalten machte, sich zu entfernen.

»Was studieren Sie eigentlich?« fragte Arnold.

»Medizin.«

»Medizin,« wiederholte er. »Ja, das ist etwas Festes, danach kann man greifen.« Er machte eine Bewegung, als nähme er die ganze Medizin in die Hand. »Da gibt es Arbeit,« fuhr er fort, »man weiß, wo man anfangen und aufhören soll. Es hat einen Sinn und einen Zweck.«

Als sie ihn so nachdenklich sprechen sah, änderte sich der Ausdruck von Verenas Gesicht. »Das allein genügt nicht,« antwortete sie mit Wärme. »Die Arbeit genügt nicht und das Ziel genügt nicht. Was ist Arbeit ohne innere Freude und Ziel ohne Persönlichkeit! Darum handelt sich’s.«

Das Geräusch eines auf den Steinfließen der Treppe Schlürfenden wurde hörbar, erst entfernt, dann ein Scharren und Aussetzen, vermischt mit Seufzen und Schnauben, dann klopfte es draußen und Verena ging, um zu öffnen.

Ein wunderlich aussehender Mann trat ein. Verena stellte vor: »Herr Tetzner, Herr Ansorge.«

Tetzner trug eine blaue Brille, einen Schlapphut, einen Wettermantel und außerordentlich große Stiefel. Unter dem Arm hatte er einen dicken Folianten. Sein Gesicht war schwammig und aufgedunsen; die Lippen schwollen förmlich aus dem Bart heraus, der in der Dämmerbeleuchtung schier eine kanariengelbe Farbe zeigte.

Verena sagte leise ein paar russische Worte. Tetzner blickte Arnold an und lachte gutmütig.

Fragend schaute Arnold von einem zum andern. Verena reichte ihm die Hand und sagte mit freundlich-ernstem Lächeln: »Ich hoffe, Sie wiederzusehen.« In ihren Augen lag auf einmal etwas Kameradschaftliches.

Dreiunddreißigstes Kapitel

Von nun an ging Arnold mit ganz anderm Sinn an eine Tätigkeit, deren bloße Grenzen zu bestimmen er bisher mit bedenklicher Leidenschaft bemüht gewesen war. Er begriff endlich, daß die Fülle ihn verwirrt, die Vielfältigkeit zerstreut hatte, und er beschloß, dem nächsten, praktisch ausnutzbaren Ziel zuzusteuern.

Es war, als ob Wolken aus seinem Gehirn fortgeblasen seien.

Er verschaffte sich ein genaues Verzeichnis der Fächer, deren Kenntnis zur Abiturialprüfung erfordert wurde. Nicht so leicht wurde es ihm zu erfahren, bis zu welchem Grade diese Kenntnisse reichen mußten. In der Universität wies man ihn da- und dorthin. Schließlich nahm er einen Wagen und fuhr in die Wohnung eines Professors der Jurisprudenz, den er hatte nennen hören. Der Mann war mürrisch und kalt. Doch Arnolds bestimmtes Auftreten und Fragen schüchterten ihn ein; er gab Auskunft wie ein aus dem Schlaf geweckter Schüler. Arnold notierte; seine heitere Liebenswürdigkeit verwunderte endlich den Gelehrten und nahm ihn für den Besucher ein. Er glaubte den Eifrigen warnen zu sollen: dies Brot mache keinen fett, der Andrang sei groß und die Brüste der Alma mater seien schlaff geworden. Arnold verstand den Schmälenden nicht. »Ich bin nicht hungrig,« sagte er kurz, dankte und entfernte sich.

Er suchte nun einen Studenten, mit dessen Hilfe er Lateinisch und Griechisch treiben konnte; von beiden Sprachen waren nur Anfangsregeln in seinem Kopf. Er folgte dem Rat des Professors und hinterlegte seine Adresse beim Pedell der Universität. Am nächsten Morgen schon ging es treppauf, treppab im Borromeoschen Haus. Junge Männer mit leidenden und düstern Gesichtern kamen. Sie trugen meist eine angenommene Demut zur Schau, eine Unterwürfigkeit, die schlecht zu den Vorstellungen Arnolds paßte. Was aber viel entmutigender und schrecklicher auf ihn wirkte, war die große Menge dieser nahrungslosen Studenten. Im Korridor, wo oft zehn oder fünfzehn auf einmal warteten, hatte der Diener Mühe, ihre Eifersucht und Vordringlichkeit zu zähmen. Jeder wollte der erste sein, und nicht durch seine Person oder sein Wesen glaubte er den andern verdrängen zu können, sondern durch die größere Niedrigkeit des Preises seiner Dienste. Von Einem zum Nächsten wurde Arnold unentschlossener. Manches Gesicht war ihm sympathisch, da stieß ihn wieder ein gewisser dunkler Schmerz darin ab. Blutlos und kraftlos tauchten ihre Züge vor ihm auf, redeten nicht, sondern lispelten und verschwanden wieder troglodytisch-fahl. Arnold fragte oft nach ihren Lebensumständen, ihrer Heimat, ihren Absichten, aber jeder betrachtete sein Geschäft als abgetan, sobald seine Erwartungen durch ein Interesse getäuscht wurden, das ihm frivol erschien. »Ich bin nicht da, um Sozialpolitik zu treiben,« meinte einer höhnisch, »dafür bleibt mir Zeit, wenn andere bei der Tafel sitzen.« Arnold schwieg, überlegte, dann sagte er, daß er eben jemand suche, der darauf Antwort zu geben verstünde, »und das muß ihm ebenso natürlich sein, wie mir, zu fragen.«

Der Student entfernte sich mit einem kurzen Auflachen, und Arnold, der keinen mit leeren Versprechungen hingehalten, wollte nun auch die übrigen nicht mehr sehen. Seiner Natur widerstrebte es, sich in ein ungesundes Mitleid einzubohren und betrübende Verhältnisse entweder als etwas Unabwendbares hinzunehmen oder durch unreife Handlungen noch mehr zu verwirren. Ihm war es klar geworden, daß eine geregelte Tätigkeit, die auf Taten zielt, mehr ist als eine verfrühte Tat.