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»Ist Wolmut zu Ihnen gekommen?« fragte Verena endlich.

»Ja, er ist gekommen.«

»Finden Sie ihn sympathisch?«

»Sehr sympathisch.«

»Er ist einer der nützlichsten Menschen, die ich kenne; er wird es sicher noch sehr weit bringen, das heißt, soweit man es in diesem korrumpierten Land eben bringen kann.«

»Weit bringen, das heißt, ein großes Amt bekommen?«

»Ja, ungefähr.«

»So weit werd’ ich’s wohl nie bringen.«

»Kaum. Idealisten bringen es nicht zu hohen Ämtern.«

»Idealisten? Das ist ein dummes Wort. Ich bin doch kein Schiller.«

Verena lachte. »Aber die Idealisten können es noch weiter bringen als zu hohen Ämtern.«

»Ach, dann bin ich versöhnt.«

»Ja, aber es gibt Gefahren.«

»Gefahren?«

»Die Idealisten dürfen sich nicht verpflichten. Sie dürfen keine anspruchsvollen Freundschaften haben.«

»Wieso? Sie meinen, daß man sparsam mit seinem Herzen sein muß.«

»Vielleicht. Oder doch, daß man das Herz nicht verschwenden soll.«

»Das scheint mir aber unmoralisch. Meiner Ansicht nach kann das Herz nicht arm werden, soviel es auch gibt.«

»Glauben Sie? Da sind Sie aber sehr auf dem Holzweg. Das Herz kann sich nämlich auch irren und sogar verirren. Und wenn es sich einmal verirrt hat, dann wird es aufgebraucht.«

»Na na, und wenn? Dazu sind wir ja da. Man kann doch nicht eine Rechenmaschine in die Brust hineinstellen.«

»Aber wenn einer ein Ziel hat, dann muß er sein Herz bewahren, sonst ist er nichts wert.«

Plötzlich erhob sich Verena und sagte: »Ich muß gehen. Ich muß zu Tetzner.«

»Wie stehen Sie eigentlich zu Herrn Tetzner?« fragte Arnold rasch.

Sie stutzte, runzelte die Stirn, antwortete aber nicht.

Kaum hatten sie auf der Straße ein paar Schritte gemacht, als Tetzners Kopf an einem ebenerdigen Fenster sichtbar wurde. »Wo steckst du, Verena?« rief er; »nimm doch den Herrn mit herein. Junger Freund, hier gibt es die seltensten Schnäpse der Welt und vieles andere, was sich sonst nur auf der Tafel des Großkhans der Bucharei findet. Kommen Sie.«

Arnold blickte hinauf und machte eine Grimasse. »Man hat schon wo anders für mich gesorgt,« entgegnete er lachend, »aber vielleicht heben Sie mir etwas auf.«

»Bravo,« rief Tetzner und klatschte in die Hände. Verena warf einen teilnehmenden, tiefen Blick auf Arnold, dessen Heiterkeit ihr sehr gefiel. Fast ungestüm streckte sie ihm die Hand hin, als er ging.

Fünfunddreißigstes Kapitel

In dem Zimmer, welches gegen den Garten hinausging, saß Hanka am Klavier und spielte eine Haydnsche Sonate. Beate saß in der Ecke des mäßig großen, noch von der untergehenden Sonne beleuchteten Raumes, blätterte in einem Photographiealbum und gähnte von Zeit zu Zeit. »Diese Einladung war ganz unnötig,« sagte sie in der Pause zwischen einem Andante und einem Allegro, »besonders da Specht nicht kommt. Was tun wir denn mit Ansorge allein und was geht er uns an? Dazu ist er noch unhöflich und läßt auf sich warten.«

Hanka wandte sich langsam mit dem Drehstuhl um. Er blickte auf die Uhr, schmatzte mit den Lippen und erwiderte: »Wir wollten doch die beiden Podoliner einmal beisammen haben, vielmehr du wolltest es. Daß dein Freund Specht absagen würde, konnte man ja nicht vermuten. Übrigens interessiert mich Ansorge viel mehr.«

Beate pendelte ungeduldig mit den Füßen. »Mich langweilt er,« sagte sie. »Ich langweile mich überhaupt. Wenn wir nur schon fort wären. Wie lang ist es noch bis morgen früh! Ich will jeden Tag wo anders sein, und du, du schläfst bei Tag und Nacht.«

Und zwischen einem Lächeln und einem Zähneknirschen fuhr sie fort: »Hast du denn die Fahrkarten bestellt?«

Mit dem ihm eigenen, schlenkernden Schritt spazierte Hanka über die Breitseite des Zimmers. Er antwortete nichts. Seit einer Reihe von Tagen war er von unnennbaren, wechselnden Empfindungen bewegt. Mit der Kraft seines ganzen Wesens hing er an Beate, doch erspähte er fortwährend Auflehnung in ihrem Innern. Für eine Person wie Hanka ist die Äußerung einer Empfindung nicht das Mittel, um Glauben an sie zu erwecken; für ihn war es wichtig, den Weg einer scheinbaren Trockenheit einschlagen zu können. Wer dies, ihn verstehend, ermöglichte, konnte ihn ganz besitzen. Es war ihm unwidersprechlich geworden, daß Beate nicht sah, was sie hätte sehen, nicht fühlte, was sie hätte fühlen müssen, daß ihre immerwährende Beweglichkeit nichts anderes war als eine Flucht vor ihm. Verdruß machte oft die Ruhe seines Nachdenkens düster. Die Anziehungskraft wächst mit dem Quadrat der Entfernungen, pflegte er sich ironisch zu sagen, und mit seiner pedantischen Gründlichkeit wünschte er genau zu erkennen, durch welche Eigenschaften ihm Beate so unentbehrlich geworden. Doch hier machten seine Gedanken Halt, und in einer Zärtlichkeit, wie sie nur sein von allen Seiten verschlossenes Herz kannte, erblickte er immer wieder das kräftige und kapriziöse Kind der Natur in ihr, dem sein eigener, schwachgewordener Wille sich mit ebenbürtiger Laune unterwerfen mußte.

»Trabst schon wieder herum wie ein Bär,« sagte Beate, sprang aber gleichzeitig auf, da es geläutet hatte. Bald darauf trat Arnold ein und wurde von Hanka mit herzlichem Händedruck, von Beate mit etwas ungeschickter Kälte begrüßt. Alle drei setzten sich sogleich zu Tisch. Draußen hatte sich der Himmel verfinstert, und Gewitterwind wehte durch den Garten. Hanka erhob sich wieder, drehte die elektrischen Flammen auf und fragte Arnold, weshalb er so spät komme.

»Zur Strafe sollten Sie eigentlich nichts zu essen bekommen,« sagte Beate ärgerlich. Arnold entschuldigte sich nicht. »Ich habe bis zuletzt gezögert, ob ich kommen soll,« sagte er. »Das ist nicht höflich, Frau Beate, aber es hat seinen Grund.«

Beate stutzte. »Er hat immer Gründe,« erwiderte sie bissig.

»Als alte Bekannte seid ihr zu spitz,« bemerkte Hanka gutmütig. Er freute sich eigentlich, daß Arnold Ansorge ihm nun gegenüber saß, es erschien ihm fast wichtig, diesen Menschen zu sehen und zu beobachten. Aus solchem Holz schnitzt man Freunde, dachte er.

Unter dem heranrollenden Donner begannen sie zu essen. Beate legte aber bald Messer und Gabel hin, und ihr Gesicht veränderte sich zusehends vor Angst.

»Ja, mit den Gewittern,« meinte Hanka stirnrunzelnd. »Für eine Frau, die auf dem Land aufgewachsen ist, ist das beschämend.«

Ein außerordentlicher Blitz ließ die Lichter des Zimmers erblassen. Nach dem langen Donner erhob sich Beate und murmelte verstört vor sich hin.

Auch Hanka stand auf. Er faßte Beate bei den Händen und suchte sie zu beruhigen. Ein zweiter Blitzstrahl erzeugte ein krampfhaftes Zittern in ihrem Körper. Voll Heftigkeit stieß sie Hanka von sich; mit einem hexenartigen Ausdruck schrie sie in den Donner hinein: »Ich will nicht, ich will euch nicht,« und lief aus dem Zimmer.

Hanka folgte ihr sogleich. Nach einer Weile kam er zurück, rief das Stubenmädchen, und Arnold fand sich abermals allein an dem gedeckten Tisch. Er nahm weniger Anteil an diesem Auftritt, als es in seinem interessevollen Wesen lag. Was von Beate kam, glitt ihm vorüber und mischte sich so wenig mit seinem Geist wie Öl mit dem Wasser. Vielleicht aber war das Spiel der Elemente draußen für ihn anziehender und ergreifender als die selbstsüchtige Bangnis einer kleinen Seele. Er trat langsam an das Gartenfenster, und beim Schein der Blitze fühlte er sich aufgefordert, Wahrheit in dies Haus zu tragen. Und das Benehmen Beates, anstatt ihn mitleidig zu stimmen, machte ihm ihre ganze Person geradezu verdächtig.

Unbefangen und fast humoristisch aufgelegt, kam Hanka zurück. »Sie hat sich in Betttücher eingehüllt und die Ohren verstopft,« sagte er. »Ich habe ihr versprechen müssen, daß Sie bald gehen werden. Haben Sie je etwas mit ihr gehabt? Es ist mir unbegreiflich. Kommen Sie, lieber Freund, essen wir weiter. Ich freue mich, daß Sie da sind und werde Sie nicht so geschwind wieder loslassen.«