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Verena stand auf und trat zu Arnold. »Ich habe für morgen Abend zwei Billette zum Konzert«, sagte sie freundlich. »Vielleicht kommen Sie mit?«

Arnold lächelte ohne zu antworten. Verena war etwas verwundert; dann preßte sie die Lippen zusammen, erblaßte und warf einen flüchtigen Blick auf Tetzner, der schweigend und abgekehrt saß. Hierauf sahen sie sich zum erstenmal von solcher Nähe in die Augen, Arnold mit großem, etwas knabenhaftem Blick, Verena mit einem zugleich bösen und flehenden Ausdruck. »Kommen Sie nur«, wiederholte sie schließlich mit der vorigen Freundlichkeit, »man spielt Beethoven.«

Am nächsten Abend holte er sie gegen sieben Uhr ab, und sie fuhren zum Konzertsaal.

Wunderbare Klänge hörte Arnold in diesen Stunden. Er sah eine Säule langsam und zart bis in den höchsten Himmel wachsen, und oben erst sprühten die erdgeborenen Blitze. Es war, als würden ihm zwei neue Ohren aufgerissen, und er lauschte mit einem Zustimmen seines tiefsten Herzens.

Aus einer hastigen Äußerung entnahm Verena, daß er ganz und gar nicht zerflossen war. Das hatte sie wohl erwartet, allein sein bestimmtes und heiteres Wesen erfüllte sie mit seltsamer Furcht.

Als es aus war, gingen sie lange schweigend auf der Straße nebeneinander. »Ich habe Hunger«, sagte Arnold endlich. »Wollen wir nicht in das Gasthaus da?« Er deutete auf die erleuchteten Fenster eines vornehmen Restaurants.

Verena schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin keine Millionärin«, sagte sie. »Überdies habe ich Tetzner versprochen, nach Haus zu kommen.«

Sie gingen weiter. »Ich lebe nämlich von Tetzners Geld«, sagte sie auf einmal mit veränderter Stimme.

Arnold hatte Mühe, einer rätselhaften Freude Herr zu werden, die ihn von der Stirn bis zu den Sohlen einhüllte.

»Aber ich will nicht sprechen,« fuhr Verena fort. »Wozu auch. Man kann doch nichts aus sich herausbringen. Ich bin auch kaum mehr fähig, mich zu verständigen. Ach, das Leben, das elende Leben!«

»Das elende Leben? Nein, das schöne Leben«, versetzte Arnold. »Das schöne, herrliche, gute glückliche Leben! Jeden Tag bin ich froh, daß ich lebe.«

Bei diesem unerwarteten Ausbruch sah ihm Verena mit einem forschenden und ergebenen Blick in die Augen.

Sie waren im Haus. Verena zündete eine Kerze an und ging gedankenvoll voraus, den Arm mit der Kerze hochhaltend und Arnolds Gegenwart lebhaft und dankbar fühlend.

Oben angelangt, klopfte sie dreimal an die Türe und sah mit dem breiten schwarzen Hut, dem langen glatten Mantel und dem vorgebeugten Kopf, der von dem Licht magisch bestrahlt wurde, wie eine Zauberin aus.

Tetzner kochte Wasser zum Tee. Als der Tee fertig war, nahm er sein Buch und setzte sich abseits. Verena legte Brot, Butter und kaltes Fleisch auf einige Teller. Ihre niedere Stirn leuchtete über den blauen stillen Augen wie ein weißes Blatt. Während sie aß, nahm sie ein Stückchen Kreide und zeichnete auf der Tischplatte herum, dabei lächelnd und verstohlen einigemal nach Arnold schielend. Er beugte sich über die Ecke und erkannte verwundert sein übertriebenes Proficlass="underline" ein rundes, ausladendes Kinn, dessen Linie gegen den Mund abenteuerlich weit einbog und so mit dem vorstehenden Lippenpaar einen wahren Hafen bildete, eine griechisch kurze Oberlippe, das Stück eines kümmerlichen Schnurrbarts, eine lange, gerade und unbescheiden in die Luft stechende Nase und über der ungewölbten Stirn anständig und gleichmäßig gestrichenes Haar. Arnold nahm nun seinerseits die Kreide und begann damit, Verenas Frisur zu zeichnen. Mit diesem schwierigen Stück verging aber so geraume Zeit, daß Verena belustigt ausrief: »Sehen Sie, auch dazu braucht es Talent.«

Tetzner hatte die Brille abgenommen und sie auf das offene Buch gelegt.

Mit großen, weit offenen Augen blickte er herüber.

»Was liest du?« fragte Verena.

»Ein Buch über die Liebe«, antwortete Tetzner.

Arnold blickte Verena an. Es gibt Augenblicke, wo ein einziges Wort genügt, um die Seele zu entflammen. Sein berücktes Herz sammelte sich plötzlich zu aller Sehnsucht und Leidenschaft, deren es fähig war.

»Wenn ich so das Leben überblicke«, fuhr Tetzner versonnen plaudernd fort, und sein Blick richtete sich düster gegen die Wand, »so ist nichts als Irrtum. Was man hat und rechtmäßig in sich trägt, wird verschleudert, und das Schlechte, das trügerisch glänzt, kauft man um teuren Preis. Auch die Liebe ist eigentlich ein Irrtum, und sie trübt das Bild der Welt.«

Gegen den Ofen gelehnt, flüsterte Verena nervös: »Was soll das ewige Reden! Ich bin satt von Worten. Ich bin überdrüssig, alles zu wissen, was ich empfinde und empfinden soll.«

Tetzner ging auf und ab und seufzte. »So lange es Tee und Schinken auf Erden gibt, soll man nicht über Liebe reden, das ist richtig«, sagte er in seiner wiederkehrenden kaustischen Manier. Breitbeinig stellte er sich vor den Tisch, starrte ins Licht der Lampe und trällerte mit veränderter, heiserer Stimme:

»Wenn er bei einer Hochzeit ist, Da sollt ihr sehen, wie er frißt; Was er nicht frißt, das steckt er ein, Das arme Dorfschulmeisterlein.
Wenn er einmal gestorben ist, Legt man ihn sicher auf den Mist. Ach wer setzt einen Leichenstein Dem armen Dorfschulmeisterlein.«

Dann warf er den Wettermantel um, nahm den Schlapphut und sein Buch und entfernte sich, ohne irgend Abschied genommen zu haben. Bald hörte man ihn die Außentüre zuschlagen.

Die Stirn an die Scheibe gedrückt, stand Verena am Fenster. »Es ist finster draußen«, murmelte sie mit erzwungener Gelassenheit. Als sie sich umdrehte und Arnold gewahrte, entfärbte sich ihr Gesicht. Er ging auf sie zu und packte mit Heftigkeit ihre Hände. Sie schwieg, atmete jedoch wie eine Gehetzte. Er drückte ihre Hände nur um so fester, als umschlösse er alles, was er im Leben an sich reißen wollen. Vergeblich war sie bemüht, sich ihm zu entwinden.

»Sind Sie denn glücklich, Verena?« fragte Arnold endlich flüsternd, im innigsten Ton, mit einem Ausdruck von Treuherzigkeit und Selbstanerbietung.

Ihr Gesicht wurde kalt, verschlossen und todesruhig, und er gab ihre Hände frei. Während sie sich an den Tisch setzte und den Kopf in die Hand stützte, stand Arnold ratlos, wie niemals durchwühlt, gekränkt und geängstigt. »Sie müssen jetzt gehen, Arnold«, sagte Verena plötzlich weich.

Mit der Lampe leuchtete sie ihm in den dunklen Flur und wartete, weit über das Geländer gebeugt, bis er unten war. Dort blieb er noch einmal stehen und schaute nun in Wirklichkeit zu ihr empor, wie er es sonst in seinen Gedanken zu tun pflegte. So begegneten sich ihre Augen durch eine nächtige Ferne, einander grüßend, doch ohne Versprechen, ohne Begehren.

Neununddreißigstes Kapitel

Eine andere Sprache redeten jetzt die Stunden für Arnold, andere Laute hatte der Tag, andere Strahlen das Licht. Sein zurückliegendes Leben erschien ihm als ein einziger Schritt vom Nichts in eine süße, gesammelte Welt. Jetzt erst glaubte er, sehen zu können; sein eigenes Spiegelbild kam ihm näher und wesensvoller vor. Er war mit allen Sinnen bei der Arbeit, aber zur selben Zeit konnte er sich mit ganzer Seele an einem verlorenen Punkt seiner Träume finden. Nichts löste sich in Weichheit auf, keine Ader seines Körpers wurde schlaff, aber alles, was er unternahm, hatte einen bestrickenden Reiz von allgemeiner Liebe und Erkenntnis des Besseren. Jede Schwierigkeit versank unter der Wucht günstiger Notwendigkeiten; die Gefahren tauchten schon von ferne in die Flut des Glückes.

Abends war er mit Verena beisammen; sie trafen einander täglich und gingen, wenn das Wetter es erlaubte, stundenlang in den Straßen spazieren. Sonst saßen sie im Zimmer oder in einem kleinen Vorstadtkaffeehaus. Verena war es, die den Aufenthalt bestimmte, die Zeit begrenzte. Sie war es, welche die Schranken zog, und Arnold, der gehorsam davor stehen blieb. Sie erstaunte, wie er unter der Berührung ihres Blickes weicher, wärmer, empfindlicher zu werden schien. Allmählich erschütterte es sie sogar, dies zu sehen. Sie fürchtete für ihn, denn je schärfer der Stahl, je tiefer die Scharte, dachte sie. Sie fürchtete auch für sich; sie hatte nicht geglaubt, einen solchen Menschen ohne Anstrengung zu gewinnen. Nach allen Seiten suchte sie zu entweichen, um immer stärker und glühender den Hauch seiner Nähe zu spüren. Sie sah sich verfallen.