Queen lehnte sich zurück gegen den Pfeiler, der wie ein marmorner Wächter steil neben der Stelle aufragte, an der der Mord geschehen war. Mit leerem Blick, die Hände am Revers, stand er dort, als der breitschultrige Flint mit vor Erregung glänzenden Augen herbeieilte. Inspektor Queen musterte ihn kritisch.
»Irgendwas gefunden, Flint?« fragte er und tastete nach seiner Schnupftabakdose.
Der Detective reichte ihm, ohne etwas zu sagen, die Hälfte einer Eintrittskarte; sie war blau und trug den Aufdruck »LL30 Links«.
»Sehr gut!« rief Queen aus. »Wo haben Sie das gefunden?«
»Direkt am Haupteingang«, sagte Flint. »Sieht so aus, als hätte sie der Besitzer gleich nach Betreten des Theaters dort fallenlassen.«
Queen gab keine Antwort. Er nahm den blauen Kontrollabschnitt, den er bei der Leiche gefunden hatte, aus seiner Westentasche. Schweigend betrachtete er sie – beide in der gleichen Farbe und mit annähernd dem gleichen Aufdruck. Auf dem einen stand LL32 Links, auf dem anderen LL30 Links.
Er kniff die Augen zusammen, als er die harmlos scheinenden Eintrittskarten einer näheren Untersuchung unterzog. Er beugte sich näher darüber und hielt die Kontrollabschnitte mit ihren Rückseiten gegeneinander. Ein wenig verdutzt drehte er dann die Vorderseiten zueinander. Immer noch unzufrieden, hielt er dann eine Rückseite gegen eine Vorderseite.
In keiner der drei Positionen stimmten die abgerissenen Enden der Eintrittskarten überein!
Fünftes Kapitel
in welchem Inspektor Queen einige ernste Unterredungen führt
Queen hatte seinen Hut in die Stirn gezogen und ging über den breiten roten Teppich, der im Hintergrund den Boden des Zuschauerraumes bedeckte. Er suchte in den Ecken seiner Hosentasche nach der unvermeidlichen Schnupftabakdose. Der Inspektor war offensichtlich mit schwerwiegenden Gedanken beschäftigt, da er mit seiner Hand die beiden blauen Kontrollabschnitte fest umklammert hielt und das Gesicht verzog, als sei er alles andere als zufrieden mit seinen Überlegungen.
Bevor er die grüngesprenkelte Türe mit der Aufschrift ›Büro des Managers‹ öffnete, drehte er sich noch einmal herum, um die Szene hinter sich zu betrachten. Im Zuschauerraum herrschte ein geordnetes Gedränge. Lautes Geschnatter erfüllte die Luft; Polizisten und Detectives gingen zwischen den Reihen umher, gaben Anweisungen, beantworteten Fragen, schoben Leute aus ihren Sitzen und stellten sie im Mittelgang in eine Reihe, um sie dann an der wuchtigen Haupttüre zu durchsuchen. Der Inspektor bemerkte geistesabwesend, daß die bevorstehende Prozedur auf wenig Protest unter den Zuschauern stieß. Sie schienen mittlerweile zu müde zu sein, um sich über das Entwürdigende einer Durchsuchung aufzuregen. Eine lange Schlange halb verärgerter, halb belustigter Frauen hatte sich auf der einen Seite gebildet, wo sie – eine nach der anderen – von einer mütterlichen, ganz in Schwarz gekleideten Frau schnell durchsucht wurden. Queen warf einen kurzen Blick auf die Detectives, die die Türe absperrten. Piggott, der eine langjährige Erfahrung besaß, fuhr mit flinken Händen über die Kleidung der Männer. Velie, der neben ihm stand, beobachtete die unterschiedlichen Reaktionen der Leute, die durchsucht wurden. Ab und zu kontrollierte er selbst einen Mann. Ellery stand ein wenig abseits, hatte seine Hände in den Taschen seines weiten Überziehers vergraben, rauchte eine Zigarette, und schien an nichts Bedeutenderes zu denken als an die verpaßte Gelegenheit, eine Erstausgabe zu erstehen. Queen seufzte und trat ein.
Das Vorzimmer zum Büro war ein winziger Raum mit einer Einrichtung aus Bronze und Eiche. In einem der Sessel an der Wand saß Pfarrer Johnny – vergraben in weiche Lederpolster – und paffte völlig unbeteiligt eine Zigarette. Ein Polizist stand neben dem Sessel, eine wuchtige Hand auf seine Schulter gelegt.
»Hinter mir her, Pfarrer«, sagte der Inspektor im Vorbeigehen. Der kleine Gangster erhob sich träge, schleuderte die Kippe geschickt in einen blinkenden Messingspucknapf und schlurfte hinter dem Inspektor her, den Polizisten an seine Fersen geheftet.
Queen öffnete die Tür zum eigentlichen Büro und schaute sich schnell um, während er noch auf der Schwelle stand. Dann trat er zur Seite und ließ dem Gangster und dem Uniformierten den Vortritt. Die Türe fiel knallend zu.
Die Büroeinrichtung zeugte vom ungewöhnlichen Geschmack Louis Panzers. Eine hellgrüne Lampe erleuchtete den geschnitzten Schreibtisch. Stühle und Rauchtischchen, ein kunstvoll gewundener Kleiderständer, ein seidener Diwan – diese und andere Stücke waren geschmackvoll über den Raum verteilt. Im Unterschied zu den Büros der meisten Theatermanager fehlten bei Panzer die Photographien von Stars, Managern, Produzenten und Mäzenen. Dafür zierten einige anspruchsvolle Drucke, ein großer Gobelin und ein Gemälde von Constable die Wände.
Aber der prüfende Blick des Inspektors galt im Moment nicht den künstlerischen Qualitäten des Privatbüros von Mr. Panzer. Er galt vielmehr den sechs Personen, denen er sich gegenüber sah. Neben Detective Johnson saß ein zu Dickleibigkeit neigender Mann mittleren Alters mit klug blickenden Augen und verwirrtem Gesichtsausdruck. Er trug tadellose Abendgarderobe. Auf dem Stuhl daneben saß ein schönes junges Mädchen, in ein einfaches Abendkleid und einen Umhang gehüllt. Sie sah empor zu einem gutaussehenden jungen Mann in Abendgarderobe, der einen Hut in der Hand hielt, sich über ihren Stuhl neigte und in ernstem Ton mit ihr sprach. Zu ihrer Seite standen zwei weitere Frauen, die sich nach vorn neigten, um zuhören zu können.
Der beleibte Mann hielt sich von den anderen fern. Als der Inspektor eintrat, stand er sofort mit fragendem Blick auf. Die kleine Gruppe verstummte und wandte ihre ernsten Gesichter Queen zu.
Mit einem mißbilligenden Husten und von seiner Eskorte begleitet, schlich Pfarrer Johnny durch das Zimmer in eine Ecke. Er schien überwältigt zu sein von der noblen Gesellschaft, in der er sich wiederfand. Er scharrte mit seinen Füßen und warf einen verzweifelten Blick in Richtung Inspektor.
Queen ging zum Schreibtisch herüber, um die ganze Gruppe im Blick zu haben. Auf seinen Wink hin eilte Johnson an seine Seite.
»Wer sind die drei, die da noch hinzugekommen sind,
Johnson?« fragte er unhörbar für die anderen im Raum. »Der alte Knabe da drüben ist Morgan«, flüsterte Johnson, »und die Schönheit, die ihm am nächsten sitzt, ist die Frau, die ich herholen sollte. Als ich sie im Zuschauerraum suchte, war sie in Begleitung dieses jungen Burschen und der beiden anderen Frauen. Die vier schienen ziemlich vertraut miteinander. Ich gab Ihre Bitte an sie weiter, und sie schien sehr nervös zu werden. Sie stand aber auf und kam mit mir – nur die drei anderen kamen auch. Ich wußte nicht, ob Sie sie nicht vielleicht sehen wollten, Inspektor …« Queen nickte.
»Irgend etwas aufschnappen können?« fragte er leise. »Nicht einen Ton, Inspektor. Der alte Knabe scheint niemanden von diesen Leuten zu kennen. Die anderen wundern sich nur die ganze Zeit darüber, warum Sie gerade dieses Mädchen sprechen wollen.«
Der Inspektor winkte Johnson in eine Ecke und wandte sich an die wartende Gruppe.
»Ich habe zwei von Ihnen zu einer kleinen Unterhaltung herbestellt«, sagte er freundlich. »Da die anderen freiwillig hier sind, müssen sie auch die Wartezeit in Kauf nehmen. Im Augenblick muß ich Sie jedoch alle bitten, ins Vorzimmer zu gehen, während ich ein kleines Geschäft mit diesem Herrn hier abwickle.« Er wies mit seinem Kopf auf den Gangster, der peinlich berührt erstarrte.