»Hatte keiner der Zeugen mitbekommen, worum es bei dem Streit ging?« fragte Queen.
»Leider nicht. Die Sache war übrigens schnell wieder vergessen; die beiden gingen friedlich auseinander. Und das war alles, was man jemals wieder darüber gehört hat. Abgesehen von heute abend natürlich.«
Nachdem der Staatsanwalt seine Ausführungen beendet hatte, trat ein bedeutungsvolles Schweigen ein. Ellery pfiff einige Takte eines Schubertliedes, während Queen mit grimmigem Nachdruck eine Prise Schnupftabak zu sich nahm.
»Zunächst einmal würde ich meinen, daß Mr. Morgan ganz schön in der Tinte sitzt«, murmelte Ellery und schaute dabei ins Leere.
Sein Vater brummte zustimmend. Sampson sagte ernst: »Nun gut, das ist eure Angelegenheit, Gentlemen. Ich weiß, was ich zu tun habe. Jetzt, wo Field aus dem Weg geräumt ist, werde ich seine Akten und seine Aufzeichnungen auf das genaueste durchkämmen lassen. Ich hoffe doch, daß seine Ermordung wenigstens zur völligen Zerschlagung seiner Organisation führen wird. Morgen früh wird einer von meinen Männern in seinem Büro sein.«
»Einer von meinen Männern hat dort schon sein Lager aufgeschlagen«, bemerkte Queen zerstreut. »Du glaubst also, daß es Morgan war?« sagte er und blickte Ellery fragend an.
»Es scheint mir fast, ich hätte vor etwa einer Minute eine Bemerkung in dem Sinne gemacht, daß Mr. Morgan ziemlich in der Tinte sitzt«, sagte Ellery ruhig. »Weiter habe ich mich nicht festgelegt. Ich gebe zu, daß Morgan der richtige Mann zu sein scheint. – Von einer Sache jedoch abgesehen, Gentlemen«, fügte er hinzu.
»Dem Hut«, sagte Inspektor Queen sofort.
»Nein«, sagte Ellery, »dem anderen Hut.«
Siebtes Kapitel
in welchem die Queens Bestandsaufnahme machen
»Mal sehen, wo wir im Augenblick stehen«, fuhr Ellery ohne Unterbrechung fort. »Laß uns die Angelegenheit mal auf die grundlegenden Einzelheiten reduziert betrachten.
Das sind in etwa die uns bekannten Fakten: Ein Mann von etwas zweifelhaftem Charakter, Monte Field, möglicherweise der Kopf einer weitreichenden Verbrecherorganisation mit zweifellos einer Menge Feinde, wird ermordet im Römischen Theater aufgefunden, zehn Minuten vor dem Ende des zweiten Aktes um genau 9:55. Er wird von einem Mann namens William Pusak entdeckt, einem ziemlich einfältigen Büroangestellten, der fünf Plätze weiter in derselben Reihe sitzt. Bei dem Versuch, seine Sitzreihe zu verlassen, muß dieser Mann an dem Opfer vorbei, das, bevor es stirbt, noch ›Mord! Bin ermordet worden!‹ oder so etwas Ähnliches flüstert.
Ein Polizist wird herbeigerufen, der sich, um sicherzugehen, daß der Mann tot ist, der Hilfe eines Arztes aus dem Publikum bedient; der erklärt, daß das Opfer an einer Art Alkoholvergiftung gestorben ist. Später bestätigt Dr. Prouty, der Polizeiarzt, diese Aussage, fügt hinzu, daß es da einen störenden Umstand gibt: Niemand würde so schnell an einer tödlichen Dosis Alkohol sterben. Die Frage nach der Todesursache muß daher im Augenblick unbeantwortet bleiben, da nur eine Autopsie sie mit Sicherheit bestimmen kann.
Da er ein großes Publikum zu beaufsichtigen hat, ruft der Polizist Hilfe herbei; Kollegen aus der näheren Umgebung kommen hinzu, um Aufsichtspflichten zu übernehmen, und schließlich kommen auch die Männer aus dem Präsidium an, um die eigentliche Untersuchung durchzuführen. Die erste wichtige Frage, die sich stellt, ist, ob der Mörder Gelegenheit hatte, den Tatort in dem Zeitraum zwischen Ausübung der Tat und ihrer Entdeckung zu verlassen. Doyle, der Polizist, der als erster am Ort des Geschehens war, gab dem Manager unverzüglich die Order, alle Ausgänge und die beiden Seitenwege mit Wachposten zu besetzen.
Als ich ankam, dachte ich genau an diesen Punkt zuallererst und führte selbst eine kleine Untersuchung durch. Ich ging an allen Ausgängen vorbei und befragte die Wachposten. Ich stellte fest, daß während des gesamten zweiten Aktes Aufseher an allen Ausgängen gestanden hatten – von zwei Ausnahmen abgesehen, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Anhand der Zeugenaussage des Getränkejungen Jess Lynch wurde ermittelt, daß das Opfer sich nicht nur in der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt – wo der Zeuge Field sah und mit ihm sprach –, sondern auch noch zehn Minuten, nachdem der Vorhang zum zweiten Akt hochgegangen war, offensichtlich guter Gesundheit erfreute. Das war, als der Junge die Flasche Ginger Ale bei Field ablieferte; dieser saß genau auf dem Platz, auf dem er später tot aufgefunden wurde. Was das Innere des Theaters betrifft, so konnte ein Platzanweiser, der am Fuße des Aufgangs zum Balkon postiert war, beschwören, daß während des zweiten Aktes weder jemand hinauf- noch heruntergegangen war. Damit scheidet die Möglichkeit, daß der Mörder Zugang zum Balkon hatte, aus.
Die zwei Ausnahmen, die ich erwähnte, sind die beiden Türen auf der äußersten Linken, die zwar hätten bewacht sein sollen, es aber nicht waren, weil die Platzanweiserin, Madge O’Connell, im Zuschauerraum neben ihrem Liebsten saß. Dadurch erschien es mir zumindest möglich, daß der Mörder durch eine der beiden Türen, die für eine Flucht günstig gelegen waren, hätte verschwinden können, sofern er dies gewollt hätte. Auch diese Möglichkeit konnte jedoch durch die Aussage dieser Madge O’Connell ausgeschlossen werden, die ich noch einmal unter die Lupe nahm, nachdem sie von Vater befragt worden war.«
»Du hast wohl heimlich mit ihr gesprochen, du Schlingel?« bemerkte Queen mit donnernder Stimme.
»Genau das hab’ ich getan«, antwortete Ellery leise vor sich hin lachend, »und ich habe die eine wichtige Tatsache entdeckt, auf die es zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Untersuchung anzukommen scheint. Die O’Connell hat geschworen, daß sie, bevor sie die Ausgänge verließ, um sich neben Pfarrer Johnny zu setzen, die Türen von innen verriegelte. Als die Unruhe ausbrach, stürzte sie von der Seite des Pfarrers weg und fand die Türen verschlossen, wie sie sie zurückgelassen hatte; sie entriegelte sie, während Doyle versuchte, das Publikum im Zaum zu halten. Sofern sie nicht gelogen hat – und ich glaube nicht, daß sie das hat –, beweist dies, daß der Mörder nicht durch eine der Türen geflohen ist, da diese zu dem Zeitpunkt, als die Leiche entdeckt wurde, immer noch von innen verriegelt waren.«
»Das darf doch wirklich nicht wahr sein!« schimpfte Queen. »Davon hat sie mir nicht einen Ton gesagt. Zum Teufel mit ihr! Warte, bis ich die in die Finger kriege!«
»Bleib doch bitte sachlich, Hüter des Gesetzes«, lachte Ellery. »Der Grund dafür, daß sie dir nichts von den verriegelten Türen erzählt hat, ist, daß du sie nicht danach gefragt hast. Sie spürte, daß sie sich ohnehin schon in einer etwas ungemütlichen Position befand.
Wie dem auch sei, auf diese Aussage hin können wir auch die beiden Ausgänge in der Nähe des Ermordeten streichen. Man muß aber zugeben, daß noch andere Möglichkeiten mit ins Spiel kommen könnten – zum Beispiel die, daß Madge O’Connell eine Komplizin ist. Ich erwähne das nur als eine Möglichkeit, nicht einmal als Theorie. So oder so hätte es der Mörder meiner Meinung nach nicht riskiert, beim Verlassen einer der Nebenausgänge gesehen zu werden. Außerdem wäre ein Abgang auf so ungewöhnliche An und Weise und zu einem so ungewöhnlichen Zeitpunkt um so auffälliger gewesen, als nur wenige Leute während des zweiten Aktes weggehen. Und dazu noch – der Mörder hätte das Pflichtversäumnis der O’Connell nicht vorhersehen können, es sei denn, sie war seine Komplizin. Da das Verbrechen sorgfältig geplant war – und dafür spricht aller Anschein –, wird der Mörder die Seitentüren als Fluchtweg von vornherein ausgeschlossen haben.