Ellery, der aus dem Fenster schaute, mußte lächeln. Der Inspektor beugte sich vor und ergriff sanft die Hand der Frau.
»Meine liebe Mrs. Russo«, sagte er, »glauben Sie mir, wir haben wirklich zwingende Gründe, daß wir unbedingt wissen müssen, was Sie letzte Nacht hier gemacht haben. Kommen Sie schon – erzählen Sie es mir.«
»Ich werd’ solange den Mund nicht aufmachen, bis ich weiß, was ihr mit Monte angestellt habt«, schrie sie und schüttelte seine Hand ab. »Wenn ihr ihn geschnappt habt, warum quälen Sie mich dann noch? Ich weiß von nichts.«
»Mr. Field ist zur Zeit sehr gut aufgehoben«, fuhr der Inspektor sie an und erhob sich. »Ich hab’ Ihnen jetzt lang genug zuhören müssen. Monte Field ist tot.«
»Monte – Field – ist –« Die Lippen der Frau bewegten sich mechanisch. Sie sprang auf, hielt das Neglige gegen ihre mollige Gestalt gepreßt und starrte in Queens unbewegtes Gesicht.
Sie lachte kurz und warf sich dann wieder aufs Bett. »Weiter so – Sie wollen mich doch nur reinlegen«, sagte sie höhnisch.
»Ich pflege über den Tod keine Scherze zu machen«, antwortete der alte Mann mit einem leisen Lächeln. »Sie können meinen Worten Glauben schenken – Monte Field ist tot.« Sie blickte zu ihm auf, lautlos bewegten sich ihre Lippen. »Und was noch dazu kommt, Mrs. Russo – er wurde ermordet. Vielleicht geruhen Sie nun, meine Fragen zu beantworten. Wo waren Sie gestern abend um Viertel vor zehn?« flüsterte er ihr ins Ohr und brachte sein Gesicht ganz nah an das ihre heran.
Mrs. Russo war kraftlos auf dem Bett zusammengesunken. Furcht spiegelte sich in ihren großen Augen. Sie starrte den Inspektor an, fand aber wenig Trost in seinem Anblick; mit einem Aufschrei warf sie sich herum und schluchzte in das zerdrückte Kopfkissen hinein. Queen trat einen Schritt zurück und sprach leise zu Piggott, der kurz zuvor das Zimmer betreten hatte. Plötzlich hörte die Frau zu schluchzen auf. Sie setzte sich auf und betupfte ihr Gesicht mit einem spitzenbesetzten Taschentuch. Ihre Augen glänzten ungewöhnlich hell.
»Jetzt versteh’ ich Sie«, sagte sie ruhig. »Gestern abend um Viertel vor zehn war ich in dieser Wohnung hier.«
»Können Sie das beweisen, Mrs. Russo?« fragte Queen und tastete nach seiner Schnupftabakdose.
»Ich kann überhaupt nichts beweisen und brauch’ es auch nicht«, erwiderte sie dumpf. »Aber wenn Sie auf ein Alibi aus sind – der Portier unten muß gesehen haben, wie ich etwa um halb zehn das Gebäude betreten habe.«
»Das läßt sich leicht überprüfen«, gab Queen zu. »Sagen Sie mir, warum sind Sie gestern abend überhaupt hierhergekommen?«
»Ich hatte eine Verabredung mit Monte«, erklärte sie mit matter Stimme. »Er rief mich gestern nachmittag bei mir zu Hause an, und wir verabredeten uns für den Abend. Er sagte, er würde geschäftlich bis etwa zehn Uhr unterwegs sein, und ich sollte hier auf ihn warten. Ich komm’ hier« – sie stockte und fuhr dann frech fort – »ich komm’ hier öfters einfach so hoch. Meistens machen wir es uns gemütlich und verbringen den Abend gemeinsam. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man verlobt ist.«
»Hmm. Versteh’ schon.« Der Inspektor räusperte sich verlegen. »Und dann, als er nicht pünktlich kam –?«
»Ich dachte, er wäre vielleicht etwas länger als geplant aufgehalten worden. Also – nun, ich wurde müde und machte ein Nickerchen.«
»Sehr gut«, sagte Queen rasch. »Hat er Ihnen erzählt, wohin er ging oder um was für Geschäfte es sich handelte?«
»Nein.«
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Mrs. Russo«, sagte der Inspektor vorsichtig, »wenn Sie mir sagen würden, ob Mr. Field etwas fürs Theater übrig hatte.«
Die Frau blickte ihn neugierig an. Langsam schien sie sich wieder zu fangen. »Er ging nicht allzu oft«, stieß sie hervor. »Warum?«
Der Inspektor strahlte. »Das war nur so eine Frage«, sagte er. Er gab Hagstrom ein Zeichen, der daraufhin ein Notizbuch aus der Tasche holte.
»Können Sie mir die Namen von Mr. Fields persönlichen Freunden geben?« fuhr Queen fort. »Vielleicht wissen Sie auch ein wenig über seine Geschäftsverbindungen Bescheid?«
Mrs. Russo legte kokett die Hände hinter dem Kopf zusammen. »Offen gesagt«, zwitscherte sie, »kenne ich keinen einzigen Namen. Monte habe ich vor ungefähr sechs Monaten bei einem Maskenball in Greenwich Village kennengelernt. Wir haben unsere Verlobung gewissermaßen geheimgehalten, Sie verstehen schon. Ich hab’ wirklich nie auch nur einen seiner Freunde getroffen … Ich glaube auch nicht«, vertraute sie Queen an, »daß Monte viele Freunde hatte. Und selbstverständlich weiß ich nichts darüber, mit wem er geschäftlich zu tun hatte.«
»Wie waren Mr. Fields finanzielle Verhältnisse, Mrs. Russo?«
»Sie trauen einer Frau zu, daß sie darüber Bescheid weiß!« entgegnete sie in ihrer völlig wiederhergestellten schnippischen Art. »Monte war immer sehr großzügig. Schien nie knapp bei Kasse zu sein. Manche Nacht hat er fünfhundert Dollar für mich hingelegt. Das war Monte – ein verdammt anständiger Kerl. Pech für ihn! Armes Schätzchen.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und schniefte heftig.
»Aber – wenigstens sein Vermögen auf der Bank?« fuhr der Inspektor entschieden fort.
Mrs. Russo lächelte. Sie schien über einen unerschöpflichen Vorrat stets wechselnder Gefühle zu verfügen. »Bin nie neugierig geworden«, sagte sie. »Solange er mich anständig behandelte, ging mich das nichts an. Und außerdem«, fügte sie hinzu, »hätte er mir sowieso nichts gesagt; was sollte mich das also kümmern?«
»Wo waren Sie gestern abend vor halb zehn, Mrs. Russo?« erklang auf einmal Ellerys gleichgültige Stimme.
Überrascht wandte sie sich dieser neuen Stimme zu. Sie schätzten sich gegenseitig ab; und etwas wie Erregung stand in ihren Augen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, Mister, aber wenn Sie das herausfinden wollen, müssen Sie schon die Liebespaare im Central Park fragen. Ich habe einen kleinen Spaziergang im Park gemacht – ich ganz allein –, etwa von halb acht, bis ich hier ankam.«
»Welch ein Glück!« murmelte Ellery. Der Inspektor eilte zur Tür und gab den drei anderen Männern mit dem Finger ein Zeichen. »Wir lassen Sie jetzt allein, damit Sie sich ankleiden können, Mrs. Russo. Das wäre vorläufig alles.« Spöttisch schaute sie zu, wie sie nacheinander das Zimmer verließen. Queen schloß als letzter die Tür, nachdem er ihr zuvor noch einen väterlichen Blick zugeworfen hatte.
Im Wohnzimmer begannen die vier Männer sofort mit einer eiligen, aber gründlichen Durchsuchung. Auf eine Anordnung des Inspektors hin durchstöberten Hagstrom und Piggott die Schubladen eines mit Schnitzereien verzierten Schreibtisches in einer Ecke des Raumes. Ellery durchblätterte interessiert die Seiten des Buches über die Deutung der Persönlichkeit aus der Handschrift. Queen strich unentwegt umher; er verschwand mit seinem Kopf in einer Kleiderkammer direkt am Eingang des Zimmers, von der Diele aus gesehen. Es war ein geräumiger Aufbewahrungsort für Kleider – die verschiedensten Mäntel, Überzieher, Capes und ähnliches waren dort aufgehängt. Der Inspektor durchwühlte die Taschen. Diverse Gegenstände kamen zum Vorschein – Taschentücher, alte Briefe, Schlüssel, Brieftaschen. Er legte sie beiseite. Auf dem oberen Regalbrett lagen mehrere Hüte.