Hesse kehrte mit dem schlaksigen Bürovorsteher zurück. Oscar Lewin hatte ein wenig anziehend wirkendes Äußeres. Er hatte verschlagen wirkende schwarze Augen und war ungewöhnlich dünn. Etwas Räuberisches ging von seiner spitzen Nase und seiner knochigen Gestalt aus. Der Inspektor musterte ihn mit kühlem Blick.
»Sie sind also der Bürovorsteher«, bemerkte er. »Nun, Lewin, was halten Sie von dieser Angelegenheit?«
»Es ist schrecklich – einfach schrecklich«, stöhnte Lewin. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das passiert sein kann oder warum. Mein Gott, gestern nachmittag um vier Uhr hab’ ich noch mit ihm gesprochen!« Er schien ehrlich erschüttert zu sein.
»Wirkte Mr. Field, als Sie mit ihm sprachen, irgendwie seltsam oder beunruhigt?«
»Überhaupt nicht, Sir«, antwortete Lewin nervös. »Er hatte sogar ungewöhnlich gute Laune. Er riß einen Witz über die Giants und erzählte, er würde am Abend in ein verdammt gutes Stück – ›Spiel der Waffen‹ – gehen. Und nun erfahre ich aus der Zeitung, daß er dort ermordet wurde.«
»Ah, er hat Ihnen also von dem Stück erzählt?« fragte der Inspektor. »Er hat nicht zufällig erwähnt, ob er zusammen mit jemandem dorthin gehen wollte?«
»Nein, Sir.« Lewin scharrte mit den Füßen.
»Ich verstehe.« Queen machte eine Pause. »Lewin, als Vorsteher hier müssen Sie doch Field näher gestanden haben als seine anderen Angestellten. Was wissen Sie über ihn persönlich?«
»Rein gar nichts, Sir, gar nichts«, entgegnete Lewin hastig. »Mr. Field war nicht der Typ, zu dem ein Angestellter ein vertrauliches Verhältnis entwickeln konnte. Gelegentlich erzählte er etwas über sich, aber das war immer mehr allgemeiner Art und eher scherzhaft als ernst gemeint. Nach außen hin war er uns gegenüber stets ein rücksichtsvoller und großzügiger Chef. Mehr kann ich über ihn nicht sagen.«
»Welcher Art war eigentlich das Geschäft, das er leitete? Sie müssen darüber doch einiges wissen.«
»Geschäft?« Lewin schien etwas verwirrt. »Nun, es war eine der besten Anwaltskanzleien, die mir überhaupt begegnet sind. Ich arbeite für Field erst seit ungefähr zwei Jahren, aber er hatte einige bedeutende und einflußreiche Klienten, Inspektor. Ich könnte Ihnen eine Liste zusammenstellen …«
»Tun Sie das, und schicken Sie sie mir zu«, sagte Queen. »Er hatte also eine blühende und angesehene Praxis, ja? Können Sie sich an irgendwelche Privatbesuche – vor allem in letzter Zeit – erinnern?«
»Nein. Ich kann mich nicht erinnern, außer seinen Klienten jemanden hier gesehen zu haben. Er könnte natürlich mit einigen von ihnen auch gesellschaftlich verkehrt haben … Ach, ja! Natürlich kam auch sein Diener manchmal hierher – ein großer, stämmiger Kerl namens Michaels.«
»Michaels? Den Namen sollte ich im Kopf behalten«, sagte der Inspektor nachdenklich. Er schaute zu Lewin auf. »In Ordnung, Lewin. Das wäre es zunächst. Sie können die ganze Truppe nach Hause schicken. Halten Sie sich bitte noch einen Moment hier auf. In kürze erwarte ich einen von Mr. Sampsons Leuten, und er wird zweifellos Ihre Hilfe benötigen.« Lewin nickte ernst und zog sich zurück.
Kaum hatte er die Tür geschlossen, sprang Queen auf. »Wo befindet sich Fields Waschraum, Hesse?« Der Detective wies auf eine Tür am anderen Ende des Zimmers.
Queen öffnete sie; Ellery stand dicht hinter ihm. Sie blickten in ein winziges Räumchen, das in einer Ecke von dem größeren Zimmer abgetrennt war. Es enthielt ein Waschbecken, einen Arzneischrank und einen kleinen Kleiderschrank. Queen schaute zunächst in den Arzneischrank, in dem sich eine Flasche Jod, eine Flasche Wasserstoffsuperoxyd, eine Tube Rasiercreme und andere Rasierutensilien befanden. »Da ist nichts«, sagte Ellery. »Was ist mit dem Schrank?« Neugierig zog der Alte die Schranktür auf. Es hingen dort ein normaler Anzug, ein halbes Dutzend Krawatten und ein weicher Filzhut. Der Inspektor nahm den Hut mit zurück ins Büro und untersuchte ihn. Er reichte ihn an Ellery weiter, der ihn sofort wieder verächtlich an seinen Haken im Schrank zurückbeförderte.
»Zum Teufel mit diesen Hüten!« platzte der Inspektor heraus. Es klopfte an der Tür, und Hesse ließ einen schüchternen, jungen Mann eintreten.
»Inspektor Queen?« erkundigte sich der Neuankömmling höflich.
»Genau«, schnauzte der Inspektor, »und wenn Sie ein Reporter sind, so können Sie schreiben, daß wir den Mörder von Monte Field innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ergreifen werden. Das ist nämlich alles, was Sie im Moment von mir zu hören bekommen.«
Der junge Mann lächelte. »Verzeihung, Inspektor, aber ich bin kein Reporter. Mein Name ist Arthur Stoates; ich bin erst seit kurzem im Büro von Staatsanwalt Sampson. Der Chef konnte mich erst heute morgen erreichen, und ich hatte noch mit einer anderen Sache zu tun; deshalb bin ich erst so spät hier. Wirklich zu schade um Field, nicht wahr?« Er grinste, als er Mantel und Hut auf einen Stuhl warf.
»Das ist Ansichtssache«, brummte Queen als Antwort. »Auf jeden Fall verursacht er einen Haufen Arbeit. Wie lauten Sampsons Anweisungen?«
»Nun, ich bin natürlich nicht so vertraut mit Fields Werdegang, wie es nötig wäre; deshalb bin ich hier nur als Ersatz für Tim Cronin, der heute morgen noch etwas anderes zu erledigen hat. Ich soll schon einmal anfangen, bis Tim sich voraussichtlich heute nachmittag frei machen kann. Wie Sie wissen, war Cronin derjenige, der vor einigen Jahren hinter Field her war. Er brennt darauf, sich mit den Aktenordnern hier beschäftigen zu können.«
»Nur zu verständlich. Sollte sich irgend etwas Belastendes in den Aufzeichnungen und Akten befinden, so wird es Cronin wohl – nach dem, was mir Sampson über ihn erzählt hat – herausfinden. Hesse, führen Sie Mr. Stoates hinaus, und machen Sie ihn mit Lewin bekannt. Das ist der Bürovorsteher hier, Stoates. Halten Sie ihn im Auge – er sieht ziemlich gerissen aus. Und, Stoates, denken Sie daran, Sie forschen nicht nach einwandfreien Geschäften und Klienten in den Aufzeichnungen, sondern nach krummen Sachen. … Bis später dann.«
Stoates lächelte ihn fröhlich an und folgte Hesse nach draußen. Ellery und sein Vater schauten sich quer durch den Raum an.
»Was hältst du da in der Hand?« fragte der alte Mann auf einmal.
»Ein Exemplar von ›Was uns die Handschrift verrät‹; ich habe es hier aus dem Regal genommen«, erwiderte Ellery träge. »Wieso?«
»Langsam fang’ ich auch an, darüber nachzudenken, El«, erklärte der Inspektor. »An dieser Handschriftensache ist irgend etwas faul.« Ein wenig ratlos schüttelte er den Kopf und erhob sich. »Komm mit, Sohn – hier gibt es nichts zu holen.«
Als sie das Hauptbüro durchquerten, das jetzt bis auf Hesse, Lewin und Stoates verlassen war, winkte Queen den Detective heran. »Gehen Sie nach Hause, Hesse«, sagte er freundlich. »Ich will nicht, daß Sie sich die Grippe holen.« Hesse grinste und verschwand auf der Stelle durch die Tür.
Wenige Minuten später saß Queen in seinem Dienstzimmer in der Center Street. Ellery nannte es das »Starzimmer«. Es war klein und gemütlich, fast wie zu Hause. Ellery ließ sich auf einen Stuhl fallen und fing an, die Bücher über Handschriften zu studieren, die er aus Fields Wohnung und aus seinem Büro stibitzt hatte. Der Inspektor drückte auf einen Summer, und in der Tür erschien die kräftige Gestalt von Thomas Velie.