»Was ist los, Doyle?« fragte der Neuankömmling, während er mißbilligend das Inferno um sie herum betrachtete. Die Uniformierten, die mit ihm gekommen waren, trieben die Menge ans Ende des Zuschauerraumes hinter die Sitzreihen. Einige Leute, die herumgestanden hatten, versuchten, auf ihre Plätze zurückzuschlüpfen; sie wurden festgehalten und gezwungen, sich zu dem wütenden Haufen zu gesellen, der hinter der letzten Reihe zusammengedrängt wurde.
»Sieht so aus, als sei dieser Mann ermordet worden, Sergeant«, sagte Doyle.
»So.« Der Mann in Zivil blickte ohne Neugierde auf die einzige ruhige Gestalt im Theater – sie lag zu ihren Füßen, einen schwarzgewandeten Arm über das Gesicht geworfen, die Beine unbeholfen unter die Sitze der Vorderreihe gestreckt.
»Mit ‘ner Kanone?« fragte der Neuankömmling Doyle, während er seinen Blick wandern ließ.
»Nein, Sir, scheint nicht der Fall zu sein«, antwortete der Polizist. »Ich habe als erstes dafür gesorgt, daß ein Arzt aus dem Publikum ihn untersucht. Er glaubt, daß es Gift war.«
Der Sergeant brummte. »Wer ist das?« knurrte er und zeigte auf die zitternde Gestalt von Pusak, der immer noch an Doyles Seite war.
»Der Bursche, der die Leiche gefunden hat«, gab Doyle zurück. »Er hat sich seitdem nicht von der Stelle bewegt.«
»Das ist gut.« Der Detective wandte sich einer geschlossenen Gruppe zu, die zusammengedrängt wenige Meter hinter ihm stand, und fragte in die Menge: »Wer ist hier der Manager?«
Panzer trat hervor.
»Ich bin Velie, Detective-Sergeant vom Polizeipräsidium«, sagte der Mann in Zivil knapp. »Haben Sie denn nichts unternommen, um diesen grölenden Haufen von Idioten ruhig zu halten?«
»Ich habe mein Bestes versucht, Sergeant«, murmelte der Manager händeringend. »Aber sie scheinen alle erbost zu sein wegen der Art und Weise, wie dieser Officer hier« – er zeigte entschuldigend auf Doyle – »herumgetobt hat. Ich glaube, man kann von ihnen nicht erwarten, daß sie auf ihren Plätzen bleiben, als sei nichts geschehen.«
»Gut, wir werden uns darum kümmern«, unterbrach ihn Velie. Er gab einen kurzen Befehl an einen neben ihm stehenden Uniformierten. »Nun« – er wandte sich wieder zu Doyle – »wie steht’s mit den Türen, den Ausgängen? Haben Sie irgend etwas in dieser Richtung unternommen?«
»Aber sicher, Sir«, grinste der Polizist. »Ich habe Mr. Panzer veranlaßt, Platzanweiser an jeder Türe zu postieren. Sie waren sowieso den ganzen Abend über dort. Aber ich wollte einfach sichergehen.«
»Da hatten Sie recht. Hat niemand versucht herauszukommen?«
»Ich denke, dafür kann ich mich verbürgen«, warf Panzer bescheiden ein. »Die Handlung des Stückes verlangt nach Platzanweisern an jeder Tür – wegen der Atmosphäre. Es ist ein Gaunerstück, mit einer Menge Schießerei und Geschrei und diesen ganzen Sachen, und die Anwesenheit von Wachen an den Ausgängen steigert noch die allgemeine Spannung. Ich kann sehr leicht für Sie herausfinden, ob …«
»Wir werden uns selbst darum kümmern«, sagte Velie. »Doyle, wen haben Sie rufen lassen?«
»Inspektor Queen«, antwortete Doyle. »Ich habe ihn von Neilson, dem Werbemann, im Präsidium anrufen lassen.«
Velie konnte nicht umhin zu lächeln. »Sie haben aber auch an alles gedacht, nicht wahr? Was ist nun mit der Leiche? Hat irgend jemand sie angefaßt, seitdem dieser Bursche sie gefunden hat?«
Der zusammengesunkene Mann in Doyles unbarmherzigem Griff platzte fast schluchzend heraus. »I-Ich hab’ ihn nur gefunden, Officer, das schwör’ ich bei Gott, ich –«
»Schon gut, schon gut«, sagte Velie kühl. »Sie halten schön den Mund, klar? Warum flennen Sie überhaupt? Nun, Doyle?«
»Kein Mensch hat die Leiche berührt, seit ich hier bin«, antwortete Doyle, mit einem Anflug von Stolz in seiner Stimme. »Außer natürlich ein Doktor Stuttgard. Ich ließ ihn aus dem Publikum holen, damit er den Tod des Mannes feststellt. Das tat er, und sonst kam niemand in die Nähe.«
»Sie waren fleißig, nicht wahr, Doyle? Ich werde dafür sorgen, daß Sie das nicht bereuen müssen«, sagte Velie. Er drehte sich um zu Panzer, der zurückschrak. »Sie begeben sich besser auf die Bühne und machen eine Durchsage, Mr. Manager. Die ganze Mannschaft hat zu bleiben, wo sie ist, bis Inspektor Queen sie nach Hause gehen läßt – klar? Sagen Sie ihnen, daß es keinen Zweck hat, sich zu beschweren – je mehr sie sich beschweren, um so länger werden sie hier bleiben müssen. Machen Sie außerdem klar, daß alle auf ihren Plätzen zu bleiben haben und daß jeder, der eine verdächtige Bewegung macht, Ärger bekommen wird.«
»Ja. Ja. Mein Gott, was für eine Katastrophe!« stöhnte Panzer auf seinem Weg durch den Mittelgang in Richtung Bühne.
Im selben Moment stieß eine kleine Gruppe von Leuten die große Eingangstür am Ende des Theaters auf und kam geschlossen über den Teppich geschritten.
Zweites Kapitel
in welchem der eine Queen arbeitet, während der andere zuschaut
Weder in der Art noch im Aussehen von Inspektor Richard Queen schien etwas Ungewöhnliches zu liegen. Er war ein kleiner, freundlich wirkender älterer Herr mit vom Alter zerfurchtem Gesicht. Er ging ein wenig vornübergebeugt mit einem Anflug von Bedachtsamkeit, was bestens zu dem vollen grauen Haar und dem Schnurrbart, den verschleiert wirkenden grauen Augen und den schlanken Händen zu passen schien.
Als er den Läufer mit kurzen, schnellen Schritten überquerte, war Inspektor Queen weit davon entfernt, besonderen Eindruck auf die neugierigen Augen, die seine Ankunft von allen Seiten verfolgten, zu machen. Und doch war die einfache Würde seiner Erscheinung so ungewöhnlich, war das Lächeln, das in seinem zerfurchten alten Gesicht lag, so arglos und wohlwollend, daß ein hörbares Raunen durch das Auditorium fuhr und ihm in seltsam passender Weise voraneilte.
Bei seinen eigenen Leuten änderte sich das Verhalten spürbar. Doyle zog sich in eine Ecke neben den Ausgängen zur linken Seite zurück. Detective-Sergeant Velie, der zynisch, kalt und wie unberührt von der drohenden Hysterie um ihn herum über die Leiche gebückt stand, entspannte sich ein wenig – so als wäre er zufrieden, seinen Platz im Scheinwerferlicht abzutreten. Die Männer in Uniform, die die Gänge bewachten, grüßten voller Eifer. Das aufgeregte, murrende und zornige Publikum sank, ohne zu wissen warum, voller Erleichterung in seine Sitze zurück.
Inspektor Queen ging auf Velie zu und gab ihm die Hand. »Wirklich zu schade, Thomas, mein Junge. Ich hab’ gehört, daß du gerade auf dem Sprung nach Hause warst, als das hier passierte«, sagte er leise. Doyle warf er ein väterliches Lächeln zu. Dann sah er sich mit einem Anflug von Mitleid den Mann auf dem Boden an. »Thomas, sind alle Ausgänge bewacht?« fragte er. Velie nickte.
Queen drehte sich um und nahm interessiert die ganze Szenerie in Augenschein. Leise stellte er Velie eine Frage, worauf dieser zustimmend nickte. Mit einer Handbewegung winkte er dann Doyle heran.
»Doyle, wo sind die Leute, die auf diesen Plätzen saßen?« Er zeigte auf die drei Sitze neben dem des Toten und auf vier weitere leere Plätze direkt in der Reihe davor.
Der Polizist schien verwirrt zu sein. »Ich hab’ da niemanden gesehen, Inspektor …«
Queen stand einen Moment ruhig da; dann ließ er Doyle wieder abtreten und bemerkte leise zu Velie: »Und das in einem überfüllten Haus. Sollte man nicht vergessen.« Nachdenklich zog Velie die Augenbrauen hoch. »Noch steck’ ich in der ganzen Sache nicht richtig drin«, fuhr der Inspektor freundlich fort. »Alles, was ich bisher sehe, sind ein Toter und ein Haufen schwitzender Leute, die Krach machen. Laß Hesse und Piggott erst einmal ein wenig Ordnung schaffen.«