Er erhob sich; Ellery folgte ihm träge. Madge O’Connell, die so tat, als würde sie die beiden nicht bemerken, öffnete die schweren Eisentüren, und das Publikum begann in die nur schwach beleuchteten Seitengänge hinauszuströmen. Ellery und sein Vater schlenderten mit den anderen hinaus. Ein livrierter Boy hinter einem hübschen Stand voller Pappbecher pries seine Ware mit betont gedämpfter Stimme an. Es war Jess Lynch, der Junge, der über Monte Fields Wunsch nach Ginger Ale ausgesagt hatte.
Ellery schlenderte bis hinter die Eisentür. Zwischen der Tür und der Backsteinmauer befand sich ein kleiner Spalt. So konnte er feststellen, daß die Hauswand, die den Seitengang auf der vom Theater abgewandten Seite begrenzte, mindestens sechs Stockwerke hoch und von keiner Öffnung durchbrochen war. Der Inspektor kaufte sich an dem Stand einen Orangensaft. Jess Lynch fuhr erschrocken zusammen, als er ihn erkannte; Inspektor Queen grüßte ihn freundlich.
Die Leute standen in kleineren Grüppchen beieinander; ihre Haltung schien ein merkwürdiges Interesse an ihrer Umgebung zu verraten. Der Inspektor hörte, wie eine Frau in einer Mischung aus Faszination und Furcht bemerkte: »Genau hier draußen soll er an dem Montag abend gestanden und sich einen Orangensaft gekauft haben!«
Drinnen ertönte die Glocke zum zweiten Akt, und diejenigen, die in den Seitengang gekommen waren, um Luft zu schnappen, eilten nun wieder zurück in den Zuschauerraum.
Bevor er sich hinsetzte, warf der Inspektor noch schnell einen Blick über den rückwärtigen Teil des Zuschauerraumes hinweg zum Fuß der Treppe, die hinauf zum Balkon führte. Auf der ersten Stufe stand wachsam ein kräftiger junger Mann in Livree.
Der zweite Akt begann voller Getöse. In bewährter Manier ließ sich das Publikum mitreißen oder hielt den Atem an, während sich auf der Bühne ein wahres schauspielerisches Feuerwerk entlud. Auf einmal schienen auch die Queens völlig von der Handlung gefesselt zu sein. Beide, Vater und Sohn, beugten sich voller Anspannung und mit aufmerksamem Blick nach vorne. Um 9.30 Uhr schaute Ellery auf seine Uhr; beide lehnten sich wieder entspannt zurück, während das Stück weiter vorandonnerte.
Um genau 9.50 Uhr erhoben sie sich, nahmen ihre Hüte und Mäntel und schlichen sich aus ihrer Reihe in den rückwärtigen Teil des Zuschauerraumes. Eine Reihe von Leuten stand dort, denen der Inspektor zulächelte, wobei er insgeheim die Macht der Presse verwünschte. Madge O’Connell, die blasse Platzanweiserin, stand steif gegen eine Säule gelehnt und starrte mit leerem Blick vor sich hin.
Zusammen mit seinem Sohn ging der Inspektor auf Panzer zu, der in der Tür zu seinem Büro stand und entzückt die ausverkauften Reihen betrachtete. Der Inspektor gab ihm ein Zeichen hineinzugehen und betrat selbst rasch mit Ellery dicht hinter sich den kleinen Vorraum. Der Ausdruck des Entzückens wich aus Panzers Gesicht.
»Ich hoffe, der Abend hat sich für Sie gelohnt?« fragte er nervös.
»Gelohnt? Nun – das hängt davon ab, was Sie darunter verstehen.« Der alte Mann machte eine knappe Handbewegung und ging durch die zweite Tür voran in Panzers Büro. »Hören Sie, Panzer«, sagte er und schritt in dem kleinen Raum erregt auf und ab, »haben Sie einen Plan des Zuschauerraums zur Hand, auf dem jeder einzelne Sitz mit Nummer und alle Ausgänge eingezeichnet sind?«
Panzer blickte erstaunt. »Ich glaube schon. Einen Augenblick.« Er machte sich an einem Aktenschrank zu schaffen, durchstöberte einige Mappen und brachte schließlich einen großen, zweigeteilten Plan des Theaters – ein Teil für das Erdgeschoß, der andere für den Balkon – hervor.
Der Inspektor schob den zweiten Teil ungeduldig beiseite und beugte sich zusammen mit Ellery über den Plan des Parketts.1
Einen Augenblick lang betrachteten sie ihn prüfend. Dann schaute Queen auf zu Panzer, der nervös auf dem Teppich von einem Fuß auf den anderen trat und anscheinend gespannt war, was man als Nächstes von ihm erwartete.
»Kann ich diesen Plan mitnehmen, Panzer?« fragte der Inspektor knapp. »Ich werde ihn unversehrt in einigen Tagen zurückgeben.«
»Aber selbstverständlich!« sagte Panzer. »Gibt es sonst noch etwas, was ich im Moment für Sie tun kann, Inspektor? … Ich möchte mich bei Ihnen noch für Ihr Entgegenkommen bei der Bekanntmachung des heutigen Aufführungstermins bedanken. Gordon Davis ist von dem vollen Haus heute abend außerordentlich angetan. Er bat mich, Ihnen seinen Dank zu übermitteln.«
»Wirklich keine Ursache«! knurrte der Inspektor, während er den Plan faltete und ihn in seine Brusttasche steckte. »Das war nur recht und billig … Und nun, Ellery, würdest du bitte mit mir kommen. Guten Abend, Panzer. Und kein Wort hiervon, denken Sie daran!«
Die beiden verließen Panzers Büro, während dieser sich noch in Versicherungen über sein Stillschweigen erging. Noch einmal durchquerten sie den rückwärtigen Teil des Zuschauerraums in Richtung des linken Seitenganges. Mit einer knappen Handbewegung winkte der Inspektor Madge O’Connell heran. »Ja?« fragte sie atemlos mit kreideweißem Gesicht.
»Machen Sie nur kurz für uns die Tür soweit auf, daß wir hindurch können, O’Connell, und danach vergessen Sie das Ganze wieder. Verstanden?« sagte der Inspektor grimmig. Sie murmelte im Flüsterton vor sich hin, als sie eine der großen Eisentüren zur Linken nicht weit von der letzten Reihe aufstieß. Mit einer letzten warnenden Kopfbewegung schlüpfte der Inspektor hinaus: Ellery folgte ihm – und leise wurde die Tür wieder geschlossen.
1 Der von Ellery Queen gefertigten Skizze, die sich auf S. 12 findet, liegt dieser Plan des Managers Panzer zugrunde. – Der Herausgeber.
Um elf Uhr, als die weit geöffneten Ausgänge nach dem Schlußvorhang die ersten Gruppen von Theaterbesuchern wieder ausspieen, betraten Richard und Ellery Queen erneut durch den Haupteingang das Römische Theater.
Siebzehntes Kapitel
in welchem sich weitere Hüte finden
»Setzen Sie sich, Tim – möchten Sie eine Tasse Kaffee?« Timothy Cronin, ein mittelgroßer Mann mit wachen Augen und feuerroter Haarpracht, setzte sich in einen von Queens bequemen Stühlen und nahm etwas verlegen das Angebot des Inspektors an.
Es war Freitag morgen, und der Inspektor und Ellery, romantisch in farbenprächtige Hausmäntel gekleidet, waren bester Laune. Am Abend zuvor waren sie zu einer für ihre Verhältnisse ungewöhnlich frühen Stunde zu Bett gegangen; sie hatten den Schlaf der Gerechten geschlafen. Jetzt hielt Djuna eine Kanne dampfenden Kaffees – von einer Sorte, die er eigenhändig mischte – auf dem Tisch für sie bereit; und zweifellos waren alle mit sich und der Welt zufrieden.
Cronin war zu einer unpassenden Zeit in das freundliche Heim der Queens eingedrungen – aufgelöst, mürrisch und schamlos fluchend. Nicht einmal der sanfte Protest des Inspektors vermochte es, den Schimpftiraden, die von seinen Lippen kamen, Einhalt zu gebieten; Ellery lauschte den Worten des Rechtssachverständigen mit dem andächtigen Entzücken eines Dilettanten, der einem echten Könner zuhört.
Dann merkte Cronin auf einmal, wo er sich befand; er errötete, wurde aufgefordert, sich hinzusetzen, und starrte auf Djunas unbeugsamen Rücken, während dieses flinke Faktotum mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt war.
»Ich nehme an, Sie sind nicht in der Stimmung, sich für Ihre Unflätigkeiten zu entschuldigen«, schalt ihn der Inspektor, während er die Hände über seinem Bauch faltete. »Muß ich erst nach dem Grund für diese schlechte Stimmung fragen?«
»Nicht nötig«, brummte Cronin und schlug wütend die Beine übereinander. »Sie können es sich schon denken. Was die Papiere von Field anbelangt, stehe ich vor einem Rätsel. Verflucht sei seine schwarze Seele!«
»Sie ist verflucht, Tim – sie ist verflucht, keine Sorge«, sagte Queen bekümmert. »Der arme Field wird wahrscheinlich gerade über einem netten kleinen Feuerchen in der Hölle geröstet – und frohlockt über Ihr Gefluche. Was genau ist das Problem – wie geht es voran?«