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Ich hatte von meinem Vater die Gewohnheit angenommen, nie von oben herab oder von großer Entfernung die Darstellung eines Schauspieles zu sehen, weil man den Menschen, welche die Handlung darstellen, in ihrer gewöhnlichen Stellung nicht auf die obere Fläche ihres Kopfes oder ihrer Schultern sehen soll und weil man ihre Mienen und Geberden soll betrachten können. Ich blieb daher ungefähr am Ende des ersten Drittteiles der Länge des Raumes stehen und wartete, bis sich der Saal füllen würde und die Glocke zum Beginne des Stückes tönte.

Sowohl die gewöhnlichen Sitze als auch die Logen füllten sich sehr stark mit geputzten Leuten, wie es Sitte war, und wahrscheinlich von dem Rufe des Stückes und des Schauspielers angezogen strömte heute eine weit größere und gemischtere Menge, wie man bei dem ersten Blicke erkennen konnte, in diese Räume. Männer, die neben mir standen, sprachen dieses aus, und in der Tat war in der Versammlung manche Gestalt zu sehen, die von den entferntesten Teilen der Vorstädte gekommen sein mußte. Die meisten, da endlich gleichsam Haupt an Haupt war, blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne. Es war damals nicht meine Gewohnheit, und ist es jetzt auch noch nicht, in überfüllten Räumen die Menge der Menschen, die Kleider, den Putz, die Lichter, die Angesichter und dergleichen zu betrachten. Ich stand also ruhig, bis die Musik begann und endete, bis sich der Vorhang hob und das Stück den Anfang nahm.

Der König trat ein und war, wie er später von sich sagte, jeder Zoll ein König. Aber er war auch ein übereilender und bedaurungswürdiger Tor. Regan, Goneril und Cordelia redeten, wie sie nach ihrem Gemüte reden mußten, auch Kent redete so, wie er nicht anders konnte. Der König empfing die Reden, wie er nach seinem heftigen, leichtsinnigen und doch liebenswürdigen Gemüte ebenfalls mußte. Er verbannte die einfache Cordelia, die ihre Antwort nicht schmücken konnte, der er desto heftiger zürnte, da sie früher sein Liebling gewesen war, und gab sein Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Goneril, die ihm auf seine Frage, wer ihn am meisten liebe, mit übertriebenen Ausdrücken schmeichelten und ihm dadurch, wenn er der Betrachtung fähig gewesen wäre, schon die Unechtheit ihrer Liebe dartaten, was auch die edle Cordelia mit solchem Abscheu erfüllte, daß sie auf die Frage, wie sie den Vater liebe, weniger zu antworten wußte, als sie vielleicht zu einer anderen Zeit, wo das Herz sich freiwillig öffnete, gesagt hätte. Gegen Kent, der Cordelia verteidigen wollte, wütete er und verbannte ihn ebenfalls, und so sieht man bei dieser heftigen und kindischen Gemütsart des Königs üblen Dingen entgegen.

Ich kannte dieses Schauspiel nicht und war bald von dem Gange der Handlung eingenommen.

Der König wohnt nun mit seinen hundert Rittern im ersten Monate bei der einen Tochter, um im zweiten dann bei der anderen zu sein und so abwechselnd fortzufahren, wie es bedungen war. Die Folgen dieser schwachen Maßregel zeigten sich auch im Lande. In dem hohen Hause Glosters empört sich ein unehelicher Sohn gegen den Vater und den rechtmäßigen Bruder und ruft unnatürliche Dinge in die Welt, da auch in des Königs Hause unnatürliche und unzweckmäßige Dinge geschahen. In dem Hofhalte der Tochter und in der in diesen Hofhalt eingepflanzten zweiten Hofhaltung des Königs und seiner hundert Ritter entstehen Anstände und Widrigkeiten, und die Entgegnungen der Tochter gegen das Tun des Königs und seines Gefolges sind sehr begreiflich, aber fast unheimlich. Beinahe herzzerreißend ist nun die treuherzige, fast blöde Zuversicht des Königs, womit er die eine Tochter, die mit schnöden Worten seinen Handlungen entgegen getreten war, verläßt, um zu der anderen, sanfteren zu gehen, die ihn mit noch härterem Urteile abweist. Sein Diener ist hier in den Stock geschlagen, er selber findet keine Aufnahme, weil man nicht vorbereitet ist, weil man die andere Schwester erwartet, die man aufnehmen muß, man rät dem König, zu der verlassenen Tochter zurückzukehren und sich ihren Maßregeln zu fügen. Bei dem Könige war vorher blindes Vertrauen in die Töchter, Übereilung im Urteile gegen Cordelia, Leichtsinn in Vergebung der Würden: jetzt entsteht Reue, Scham, Wut und Raserei. Er will nicht zu der Tochter zurückkehren, eher geht er in den Sturm und in das Ungewitter auf die Haide hinaus, die gegen ihn wüten dürfen, denen er ja nichts geschenkt hat. Er tritt in die Wüste bei Nacht, Sturm und Ungewitter, der Greis gibt die weißen Haare den Winden preis, da er auf der Haide vorschreitet, von niemandem begleitet als von dem Narren, er wirft den Mantel in die Luft, und da er sich in Ausdrücken erschöpft hat, weiß er nichts mehr als die Worte — Lear! Lear! Lear! aber in diesem einzigen Worte liegt seine ganze vergangene Geschichte und liegen seine ganzen gegenwärtigen Gefühle. Er wirft sich später dem Narren an die Brust und ruft mit Angst: Narr, Narr! ich werde rasend — ich möchte nicht rasend werden — nur nicht toll! Da er die drei letzten Worte milder sagte, gleichsam bittend, so flossen mir die Tränen über die Wangen herab, ich vergaß die Menschen herum und glaubte die Handlung als eben geschehend. Ich stand und sah unverwandt auf die Bühne. Der König wird nun wirklich toll, er kränzt sich in den Tagen nach jener Sturmnacht mit Blumen, schwärmt auf den Hügeln und Haiden und hält mit Bettlern einen hohen Gerichtshof. Es ist indessen schon Botschaft an seine Tochter Cordelia getan worden, daß Regan und Goneril den Vater schnöd behandeln. Diese war mit Heeresmacht gekommen, um ihn zu retten. Man hatte ihn auf der Haide gefunden, und er liegt nun im Zelte Cordelias und schläft. Während der letzten Zeit ist er in sich zusammengesunken, er ist, während wir ihn so vor uns sahen, immer älter, ja gleichsam kleiner geworden. Er hatte lange geschlafen, der Arzt glaubt, daß der Zustand der Geisteszerrüttung nur in der übermannenden Heftigkeit der Gefühle gelegen war und daß sich sein Geist durch die lange Ruhe und den erquickenden Schlaf wieder stimmen werde. Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat nicht den Mut, die vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen, und sagt im Mißtrauen auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte diese fremde Frau für sein Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der Wahrheit seiner Vorstellung überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem Bette herab und bittet knieend und händefaltend sein eigenes Kind stumm um Vergebung. Mein Herz war in dem Augenblicke gleichsam zermalmt, ich wußte mich vor Schmerz kaum mehr zu fassen. Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schauspiele war schon längst keine Rede mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir. Der günstige Ausgang, welchen man den Aufführungen dieses Stückes in jener Zeit gab, um die fürchterlichen Gefühle, die diese Begebenheit erregt, zu mildern, tat auf mich keine Wirkung mehr, mein Herz sagte, daß das nicht möglich sei, und ich wußte beinahe nicht mehr, was vor mir und um mich vorging. Als ich mich ein wenig erholt hatte, tat ich fast scheu einen Blick auf meine Umgebung, gleichsam um mich zu überzeugen, ob man mich beobachtet habe. Ich sah, daß alle Angesichter auf die Bühne blickten und daß sie in starker Erregung gleichsam auf den Schauplatz hingeheftet seien. Nur in einer ebenerdigen Loge sehr nahe bei mir saß ein Mädchen, welches nicht auf die Darstellung merkte, sie war schneebleich, und die Ihrigen waren um sie beschäftigt. Sie kam mir unbeschreiblich schön vor. Das Angesicht war von Tränen übergossen, und ich richtete meinen Blick unverwandt auf sie. Da die bei ihr Anwesenden sich um und vor sie stellten, gleichsam um sie vor der Betrachtung zu decken, empfand ich mein Unrecht und wendete die Augen weg.