Bei einer solchen Gelegenheit ereignete sich mit mir ein Vorfall, der mich nach dem Beiwohnen bei der Aufführung des Lear in jenem Winter am meisten beschäftigte.
Wir waren seit Jahren mit einer Familie sehr befreundet, welche in der Hofburg wohnte. Es war die Wittwe und Tochter eines berühmten Mannes, der einmal in großem Ansehen gestanden war. Da der Vater ein bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach seinem Tode auch ein Hoffräulein, weshalb sie mit der Mutter in der Burg wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee, der andere bei einer Gesandtschaft. Wenn das Fräulein nicht eben im Dienste war, wurde zuweilen abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in welchem etwas vorgelesen, gesprochen oder Musik gemacht wurde. Da die Mutter etwas älter wurde, spielte man sogar zuweilen Karten. Wir waren öfter an solchen Abenden bei dieser Familie. In jenem Winter hatte ich ein Buch, welches mir von der Mutter des Hoffräuleins war geliehen worden, länger behalten, als es eigentlich die Höflichkeit erlaubte. Deshalb ging ich eines Mittags hin, um das Buch persönlich zu überbringen und mich zu entschuldigen. Als ich von dem äußeren Burgplatze durch das hohe Gewölbe des Gehweges in den inneren gekommen war, fuhren eben aus dem Hofe zu meiner Rechten mehrere Wägen heraus, die meinen Weg kreuzten und mich zwangen, eine Weile stehen zu bleiben. Es standen noch mehrere Menschen neben mir, und ich fragte, was diese Wägen bedeuteten.
»Es sind Glückwünsche, welche dem Kaiser nach seiner Wiedergenesung von großen Herren abgestattet worden sind und welche er eben angenommen hatte«, sagte ein Mann neben mir.
Der letzte der Wägen war mit zwei Rappen bespannt, und in ihm saß ein einzelner Mann. Er hatte den Hut neben sich liegen und trug die weißen Haare frei in der winterlichen Luft. Der Überrock war ein wenig offen, und unter ihm waren Ordenssterne sichtbar. Als der Wagen bei mir vorüberfuhr, sah ich deutlich, daß mein alter Gastfreund, der mich in dem Rosenhause so wohlwollend aufgenommen hatte, in demselben sitze. Er fuhr schnell vorbei, wie es bei Wägen dieser Art Sitte ist, und schlug die Richtung nach der Stadt ein. Er fuhr bei dem Tore aus der Burg, an welchem die zwei Riesen als Simsträger angebracht sind. Ich wollte jemand von meinen Nachbaren fragen, wer der Mann sei; aber da von den Wägen, welche die Fußgänger aufgehalten hatten, der seinige der letzte gewesen und der Weg sodann frei war, so waren alle Nachbaren bereits ihrer Wege gegangen, und diejenigen, welche jetzt neben mir waren, hatten die Wägen nicht in der Nähe gesehen.
Ich ging daher über den Hof und stieg, über die sogenannte Reichskanzleitreppe empor.
Ich traf die alte Frau allein, übergab ihr das Buch und sagte meine Entschuldigungen.
Im Verlaufe des Gespräches erwähnte ich des Mannes, den ich in dem Wagen gesehen hatte und fragte, ob sie nicht wisse, wer er sei. Sie wußte von gar nichts.
»Ich habe nicht bei den Fenstern hinabgeschaut«, sagte sie, »es geht Vieles auf dem großen Hofe vor, ich achte nicht darauf. Ich habe gar nicht gewußt, daß bei dem Kaiser eine Vorfahrt gewesen ist, er war vorgestern noch nicht ganz gesund. Da mein Mann noch lebte, haben wir immer die Aussicht auf den großen Platz der Hofburg gehabt, und wie bedeutende Dinge da auch vorgehen, so wiederholen sich doch immer die nehmlichen, wenn man viele Jahre zuschaut; und endlich schaut man gar nicht mehr zu und hat herinnen ein Buch oder sein Strickzeug, wenn draußen in das Gewehr gerufen wird, oder Reiter zu hören sind, oder Wagen rollen.«
»Wer ist denn von denen, die in der Aufwartung bei dem Kaiser wegfuhren, in dem letzten Wagen gesessen, Henriette?« fragte sie ihre eben eintretende Tochter, das Hoffräulein.
»Das ist der alte Risach gewesen«, antwortete diese, »er ist eigens hereingekommen, um sich Seiner Majestät vorzustellen und seine Freude über dessen Wiedergenesung auszudrücken.«
Ich hatte in meiner Jugend öfter den Namen Risach nennen gehört, allein ich hatte damals so wenig darauf geachtet, was ein Mann, dessen Namen ich hörte, tue, daß ich jetzt gar nicht wußte, wer dieser Risach sei, Ich fragte daher mit jener Rücksicht, die man bei solchen Fragen immer beobachtet, und erfuhr, daß der Freiherr von Risach zwar nicht die höchsten Staatswürden bekleidet habe, daß er aber in der wichtigen und schmerzlichen Zeit des nunmehr auch alternden Kaisers in den belangreichsten Dingen tätig gewesen sei, daß er mit den Männern, welche die Angelegenheiten Europas leiteten, an der Schlichtung dieser Angelegenheiten gearbeitet habe, daß er von fremden Herrschern geschätzt worden sei, daß man gemeint habe, er werde einmal an die Spitze gelangen, daß er aber dann ausgetreten sei. Er lebe meistens auf dem Lande, komme aber öfter herein und besuche diesen oder jenen seiner Freunde. Der Kaiser achte ihn sehr, und es dürfte noch jetzt vorkommen, daß hie und da nach seinem Rate gefragt werde. Er soll reich geheiratet, aber seine Frau wieder verloren haben. Überhaupt wisse man diese Verhältnisse nicht genau.
Alles dieses hatte mir das Hoffräulein gesagt.
»Siehst du, meine liebe Henriette«, sprach die alte Frau, »wie sich die Dinge in der Welt verändern. Du weißt es noch nicht, weil du noch jung bist und weil du nichts erfahren hast. Das Niedrige wird hoch, das Hohe wird niedrig, Eines wird so, das Andere wird anders, und ein Drittes bleibt bestehen. Dieser Risach ist sehr oft in unser Haus gekommen. Da uns der Vater noch zuweilen in dem alten Doktorwagen, den er hatte, und der dunkelgrün und schwarz angestrichen war, spazieren fahren ließ, ist er nicht einmal, sondern oft auf dem Kutschbocke gesessen, oder er ist gar, wenn wir im Freien fuhren und uns die Leute nicht sehen konnten, hinten aufgestanden wie ein Leibdiener, denn der Wagen des Vaters hat ein Dienerbrett gehabt. Wir waren kaum anders als Kinder, er war ein junger Student, der wenig Bekanntschaft hatte, dessen Herkunft man nicht wußte und um den man auch nicht fragte. Wenn wir in dem Garten auf dem Landhause waren, sprang er mit den Brüdern auf den hölzernen Esel, oder sie jagten die Runde in das Wasser oder setzten unsere Schaukel in Bewegung. Er brachte deinen Vater zu meinen Brüdern als Kameraden in das Haus. Man wußte damals kaum, wer schöner gewesen sei, Risach oder dein Vater. Aber nach einer Zeit wurde Risach weniger gesehen, ich weiß nicht warum, es vergingen manche Jahre, und ich trat mit deinem Vater in den heiligen Stand der Ehe. Die Brüder waren als Staatsdiener zerstreut, die Eltern waren endlich tot, von Risach wurde oft gesprochen, aber wir kamen wenig zusammen. Der Vater begann seine Tätigkeit hauptsächlich erst dann, als Risach schon ausgetreten war. Da sitze ich jetzt nun wieder, aber in einem anderen Teile der Burg, dein Vater hat die Erde verlassen müssen, du bist nicht einmal mehr ein Kind, dienst deiner hohen, gütigen Herrin, und da von Risach die Rede war, meinte ich, es seien kaum einige Jahre vergangen, seit er die Schaukel in unserem Garten bewegt hat.«
Ich fragte, ob nicht Risach eine Besitzung im Oberlande habe.
Man sagte mir, daß er dort eine habe.
Ich wollte nicht weiter fragen, um nicht die ganze Darlegung meiner Einkehr in diesem Sommer machen zu müssen.
Als ich aber nach Hause gekommen war, erzählte ich die heutige Begegnung meinen Angehörigen bei dem Mittagessen. Der Vater kannte den Freiherrn von Risach sehr gut. Er war in früherer Zeit mehrere Male mit ihm zusammengekommen, hatte ihn aber jetzt schon lange nicht gesehen. Als Anhaltspunkte, daß mein Beherberger in dem Rosenhause der Freiherr von Risach gewesen sei, dienten, daß ich ihn, wenn mich nicht in der Schnelligkeit des Fahrens eine Ähnlichkeit getäuscht hat, selber gesehen habe, daß er im Oberlande eine Besitzung hat, daß er wohlhabend sei, was mein Beherberger sein müsse, und daß er hohe Geistesgaben besitze, die mein Beherberger auch zu haben scheine. Man beschloß, in dieser Sache nicht weiter zu forschen, da mein Beherberger mir seinen Namen nicht freiwillig genannt habe, und die Dinge so zu belassen, wie sie seien.