Gegen Abend desselben Tages kam ein Besuch in das Rosenhaus. Es war ein Mann, welcher in der Nähe eine bedeutende Besitzung hatte, die er selber bewirtschaftete, obwohl er sich im Winter eine geraume Zeit in der Stadt aufhielt. Er war von seiner Gattin und zwei Töchtern begleitet, Sie waren auf der Rückfahrt von einem Besuche begriffen, den sie in einem entfernteren Teile der Gegend gemacht hatten, und waren wie sie sagten, zu dem Hause herauf gefahren, um zu sehen, ob die Rosen schon blühten und um die gewöhnliche Pracht zu bewundern. Sie hatten im Sinne, am Abende wieder fort zu fahren, allein da die Zeit schon so weit vorgerückt war, drang mein Gastfreund in sie, die Nacht in seinem Hause zuzubringen, in welches Begehren sie auch einwilligten. Die Pferde und der Wagen wurden in den Meierhof gebracht, den Reisenden wurden Zimmer angewiesen.
Sie gingen aus denselben aber wieder sehr bald hervor, man begab sich auf den Sandplatz vor dem Hause, und die Rosenschau wurde aufs neue vorgenommen. Es waren zum Teile noch die Stühle vorhanden, die man heute herausgetragen hatte, obwohl der Tisch schon weggeräumt war. Die Mutter setzte sich auf einen derselben und nötigte Mathilden, neben ihr Platz zu nehmen. Die Mädchen gingen neben den Rosen hin, und man redete viel von den Blumen und bewunderte sie.
Vor dem Abendessen wurde noch ein Gang durch den Garten und einen Teil der Felder gemacht, dann begab sich alles auf seine Zimmer.
Da die Stunde zu dem Abendmahle geschlagen hatte, versammelte man sich wieder in dem Speisesaale. Der Fremde und seine Begleiterinnen hatten sich umgekleidet, der Mann erschien sogar im schwarzen Fracke, die Frauen hatten einen Anzug, wie man ihn in der Stadt bei nicht festlichen, aber freundschaftlichen Besuchen hat. Wir waren in unseren gewöhnlichen Kleidern. Aber gerade durch den Anzug der Fremden, an dem sachgemäß nichts zu tadeln war, was ich recht gut beurteilen konnte, weil ich solche Gewänder an meiner Mutter und Schwester oft sah und auch oft Urteile darüber hörte, wurden unsere Kleider nicht in den Schatten gestellt, sondern sie taten eher denen der Fremden, wenigstens in meinen Augen, Abbruch. Der geputzte Anzug erschien mir auffallend und unnatürlich, während der andere einfach und zweckmäßig war. Es gewann den Anschein, als ob Mathilde, Natalie, mein alter Gastfreund und selbst Gustav bedeutende Menschen wären, indes jene einige aus der großen Menge darstellten, wie sie sich überall befinden.
Ich betrachtete während der Zeit des Essens und nachher, da wir uns noch eine Weile in dem Speisezimmer aufhielten, sogar auch die Schönheit der Mädchen. Die ältere von den beiden Töchtern der Fremden — wenigstens mir erschien sie als die ältere — hieß Julie. Sie hatte braune Haare wie Natalie. Dieselben waren reich und waren schön um die Stirne geordnet. Die Augen waren braun, groß und blickten mild. Die Wangen waren fein und ebenmäßig, und der Mund war äußerst sanft und wohlwollend. Ihre Gestalt hatte sich neben den Rosen und auf dem Spaziergange als schlank und edel, und ihre Bewegungen hatten sich als natürliche und würdevolle gezeigt. Es lag ein großer hinziehender Reiz in ihrem Wesen. Die jüngere, welche Appolonia hieß, hatte gleichfalls braune, aber lichtere Haare als die Schwester. Sie waren ebenso reich und wo möglich noch schöner geordnet. Die Stirne trat klar und deutlich von ihnen ab, und unter derselben blickten zwei blaue Augen nicht so groß wie die braunen der Schwester, aber noch einfacher, gütevoller und treuer hervor. Diese Augen schienen von dem Vater zu kommen, der sie auch blau hatte, während die der Mutter braun waren. Die Wangen und der Mund erschienen noch feiner als bei der Schwester und die Gestalt fast unmerkbar kleiner. War ihr Benehmen minder anmutig als das der Schwester, so war es treuherziger und lieblicher. Meine Freunde in der Stadt würden gesagt haben, es seien zwei hinreißende Wesen, und sie waren es auch. Natalie — ich weiß nicht, war ihre Schönheit unendlich größer oder war es ein anderes Wesen in ihr, welches wirkte —, ich hatte aber dieses Wesen noch in einem geringen Maße zu ergründen vermocht, da sie sehr wenig zu mir gesprochen hatte, ich hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht beurteilen können, da ich mir nicht den Mut nahm, sie zu beobachten, wie man eine Zeichnung beobachtet — aber sie war neben diesen zwei Mädchen weit höher, wahr, klar und schön, daß jeder Vergleich aufhörte. Wenn es wahr ist, daß Mädchen bezaubernd wirken können, so konnten die zwei Schwestern bezaubern; aber um Natalie war etwas wie ein tiefes Glück verbreitet.
Mathilde und mein Gastfreund schienen diese Familie sehr zu lieben und zu achten, das zeigte das Benehmen gegen sie.
Die Mutter der zwei Mädchen schien ungefähr vierzig Jahre alt zu sein. Sie hatte noch alle Frische und Gesundheit einer schönen Frau, deren Gestalt nur etwas zu voll war, als daß sie zu einem Gegenstande der Zeichnung hätte dienen können, wie man wenigstens in Zeichnungen gerne schöne Frauen vorstellt. Ihr Gespräch und ihr Benehmen zeigte, daß sie in der Welt zu dem sogenannten vorzüglicheren Umgang gehöre. Der Vater schien ein kenntnisvoller Mann zu sein, der mit dem Benehmen der feineren Stände der Stadt die Einfachheit der Erfahrung und die Güte eines Landwirtes verband, auf den die Natur einen sanften Einfluß übte. Ich hörte seiner Rede gerne zu. Mathilde erschien bedeutend älter als die Mutter der zwei Mädchen, sie schien einstens wie Natalie gewesen zu sein, war aber jetzt ein Bild der Ruhe und, ich möchte sagen, der Vergebung. Ich weiß nicht, warum mir in den Tagen dieser Ausdruck schon mehrere Male einfiel. Sie sprach von den Gegenständen, welche von den Besuchenden vorgebracht wurden, brachte aber nie ihre eigenen Gegenstände zum Gespräche. Sie sprach mit Einfachheit, ohne von den Gegenständen beherrscht zu werden und ohne die Gegenstände ausschließlich beherrschen zu wollen. Mein Gastfreund ging in die Ansichten seines Gutsnachbars ein und redete in der ihm eigentümlichen klaren Weise, wobei er aber auch die Höflichkeit beging, den Gast die Gegenstände des Gespräches wählen zu lassen.
So saßen diese zwei Abteilungen von Menschen an demselben Tische und bewegten sich in demselben Zimmer, wirklich zwei Abteilungen von Menschen.
Daraus, daß sie gerade zur Rosenblüte herauf gefahren waren, erkannte ich, daß die Nachbarn meines Gastfreundes nicht bloß um seine Vorliebe für diese Blumen wußten, sondern daß sie etwa auch Anteil daran nahmen.
Es wurde nach dem Essen nicht mehr ein Spaziergang gemacht, wie in diesen Tagen, sondern man blieb in Gesprächen bei einander und ging später, als es sonst in diesem Hause gebräuchlich war, zur Ruhe.
Am anderen Morgen wurde das Frühmahl in dem Garten eingenommen, und nachdem man sich noch eine Weile in dem Gewächshause aufgehalten hatte, fuhren die Gäste mit der wiederholt vorgebrachten Bitte fort, sie doch auch recht bald auf ihrem Gute zu besuchen, was zugesagt wurde.
Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin, wie sie seit der Ankunft der Frauen dahin gegangen waren. Die Zeit, welche jedes frei hatte, brachten wir wieder öfter gemeinschaftlich zu. Ich wurde nicht selten in diesen Zeiten ausdrücklich zur Gesellschaft geladen. Natalie hatte auch ihre Lernstunden, welche sie gewissenhaft hielt. Gustav sagte mir, daß sie jetzt Spanisch lerne und spanische Bücher mit hieher gebracht habe. Ich hatte doch den Raum, welchen man mir in dem sogenannten Steinhause eingeräumt hatte, benutzt und hatte mehrere meiner Gegenstände dort hingebracht. Gustav las bereits in den Büchern von Goethe. Sein Ziehvater hatte ihm Hermann und Dorothea ausgewählt und ihm gesagt, er solle das Werk so genau und sorgfältig lesen, daß er jeden Vers völlig verstehe, und wo ihm etwas dunkel sei, dort solle er fragen. Mir war es rührend, daß die Bücher alle in Gustavs Zimmer aufgestellt waren und daß man das Zutrauen hatte, daß er kein anderes lesen werde, als welches ihm von dem Ziehvater bezeichnet worden sei. Ich kam oft zu ihm, und wenn ich nach der Kenntnis, die ich bereits von seinem Wesen gewonnen hatte, nicht gewußt hätte, daß er sein Versprechen halten werde, so hätte ich mich durch meine Besuche von dieser Tatsache überzeugt. Mathilde und Natalie standen oft dabei, wenn mein Gastfreund für seine gefiederten Gäste auf der Fütterungstenne Körner streute, und nicht selten, wenn ich des Morgens von einem Gange durch den Garten zurückkam, sah ich, daß bei der Fütterung in dem Eckzimmer, an dessen Fenstern die Fütterungsbrettchen angebracht waren, eine schöne Hand tätig sei, die ich für Nataliens erkannte. Wir besuchten manchmal die Nester, in welchen noch gebrütet wurde oder sich Junge befanden. Die meisten aber waren schon leer, und die Nachkommenschaft wohnte bereits in den Zweigen der Bäume. Oft befanden wir uns in dem Schreinerhause, sprachen mit den Leuten, betrachteten die Fortschritte der Arbeit und redeten darüber. Wir besuchten sogar auch Nachbarn und sahen uns in ihrer Wirtschaftlichkeit um. Wenn wir in dem Hause waren, befanden wir uns in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes, es wurde etwas gelesen, oder es wurde ein geistansprechender Versuch in dem Zimmer der Naturlehre gemacht, oder wir waren in dem Bilderzimmer oder in dem Marmorsaale. Mein Gastfreund mußte oft seine Kunst ausüben und das Wetter voraussagen. Immer, wenn er eine bestimmte Aussage machte, traf sie ein. Oft verweigerte er aber diese Aussage, weil, wie er erklärte, die Anzeigen nicht deutlich und verständlich genug für ihn seien.