Die Alten, die ich einst zu verstehen geglaubt hatte, kamen mir doch jetzt anders vor als früher. Es schien mir, als wären sie natürlicher, wahrer, einfacher und größer als die Männer der neuen Zeit und als lasse sie der Ernst ihres Wesens und die Achtung vor sich selbst nicht zu den Überschreitungen gelangen, welche spätere Zeiten für schön hielten. Ich trug Homeros, Äschylos, Sophokles, Thukydides fast auf allen Wanderungen mit mir. Um sie zu verstehen, nahm ich alle griechischen Sprachwerke, die mir empfohlen waren, vor und lernte in ihnen. Am förderlichsten im Verstehen war aber das Lesen selber. Bei den Alten nahm ich Geschichtschreiber gerne unter Dichter, sie schienen mir dort einander näher zu stehen als bei den Neuen.
Da geriet auch ich auf das Malen. Die Gebirge standen im Reize und im Ganzen vor mir, wie ich sie früher nie gesehen hatte. Sie waren meinen Forschungen stets Teile gewesen. Sie waren jetzt Bilder, so wie früher bloß Gegenstände. In die Bilder konnte man sich versenken, weil sie eine Tiefe hatten, die Gegenstände lagen stets ausgebreitet zur Betrachtung da. So wie ich früher Gegenstände der Natur für wissenschaftliche Zwecke gezeichnet hatte, wie ich bei diesen Zeichnungen zur Anwendung von Farben gekommen war, wie ich ja vor Kurzem erst Geräte gezeichnet und gemalt hatte: so versuchte ich jetzt auch, den ganzen Blick, in dem ein Hintereinanderstehendes, im Dufte Schwebendes, vom Himmel sich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder Leinwand zu zeichnen und mit Ölfarben zu malen. Das sah ich sogleich, daß es weit schwerer war als meine früheren Bestrebungen, weil es sich hier darum handelte, ein Räumliches, das sich nicht in gegebenen Abmessungen und mit seinen Naturfarben, sondern gleichsam als die Seele eines Ganzen darstellte, zu erfassen, während ich früher nur einen Gegenstand mit bekannten Linienverhältnissen und seiner ihm eigentümlichen Farbe in die Mappe zu übertragen hatte. Die ersten Versuche mißlangen gänzlich. Dieses schreckte mich aber nicht ab, sondern eiferte mich vielmehr noch immer stärker an. Ich versuchte wieder und immer wieder. Endlich vertilgte ich die Versuche nicht mehr, wie ich früher getan hatte, sondern bewahrte sie zur Vergleichung auf. Diese Vergleichung zeigte mir nach und nach, daß sich die Versuche besserten und die Zeichnung leichter und natürlicher wurde. Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr ich nach dem Ergreifen strebte, desto schöner wurde auch dieses Unnennbare vor mir selbst.
Ich blieb so lange in dem Gebirge, als es nur möglich wurde und als die zunehmende Kälte einen Aufenthalt im Freien nicht ganz und gar verbot.
Im spätesten Herbste ging ich noch einmal zu meinem Gastfreunde in das Rosenhaus. Es war zur Zeit, da in dem Gebirge schon mannigfaltige Schneelasten auf den Höhen lagen und das flache Land sich schon jedes Schmuckes entäußert hatte. Der Garten meines Freundes war kahl, die Bienenhütte war in Stroh eingehüllt, in den laublosen Zweigen schrillte mir noch manche vereinzelte Kohlmeise oder ein Wintervogel, und über ihnen zogen in dem grauen Himmel die grauen Dreiecke der Gänse nach dem Süden. Wir saßen in den langen Abenden bei dem Feuer des Kamins, arbeiteten unter Tags an der Einhüllung und Einwinterung der Gegenstände, die es bedurften, oder machten an manchem Nachmittage einen Spaziergang, wenn der regsame Nebel die Hügel und die Täler und die Ebenen umwandelte.
Ich zeigte meinem Gastfreunde meine Versuche im landschaftlichen Malen, weil ich es gewissermaßen für eine Falschheit gehalten hätte, ihm nichts von der Veränderung zu sagen, die in mir vorgegangen war. Ich scheute mich sehr, die Versuche vorzulegen, ich tat es aber doch, und zwar zu einer Zeit, da auch Eustach zugegen war. Als Einleitung erklärte ich, wie ich nach und nach dazu gekommen wäre, diese Dinge zu machen.
»Es geht allen so, welche die Gebirge öfter besuchen und welche Einbildungskraft und einiges Geschick in den Händen haben«, sagte mein Gastfreund, »ihr braucht euch deshalb nicht beinahe zu entschuldigen, es war zu erwarten, daß ihr nicht bloß bei eurem Sammeln von Steinen und Versteinerungen bleiben werdet, es ist so in der Natur, und es ist so gut.«
Die Entwürfe wurden mit viel mehr Ernst und Genauigkeit durchgenommen, als sie verdienten. Da sowohl mein Gastfreund als auch Eustach jedes Blatt öfter betrachtet hatten, sprachen sie mit mir darüber. Ihr Urteil ging einstimmig darauf hinaus, daß mir das Naturwissenschaftliche viel besser gelungen sei als das Künstlerische. Die Steine, die sich in den Vordergründen befänden, die Pflanzen, die um sie herum wuchsen, ein Stück alten Holzes, das da läge, Teile von Gerölle, die gegen vorwärts säßen, selbst die Gewässer, die sich unmittelbar unter dem Blicke befänden, hätte ich mit Treue und mit den ihnen eigentümlichen Merkmalen ausgedrückt. Die Fernen, die großen Flächen der Schatten und der Lichter an ganzen Bergkörpern und das Zurückgehen und Hinausweichen des Himmelsgewölbes seien mir nicht gelungen. Man zeigte mir, daß ich nicht nur in den Farben viel zu bestimmt gewesen wäre, daß ich gemalt hätte, was nur mein Bewußtsein an entfernten Stellen gesagt, nicht mein Auge, sondern daß ich auch die Hintergründe zu groß gezeichnet hätte, sie wären meinen Augen groß erschienen, und das hätte ich durch das Hinaufrücken der Linien angeben wollen. Aber durch Beides, durch Deutlichkeit der Malerei und durch die Vergrößerung der Fernen hätte ich die letzteren näher gerückt und ihnen das Großartige benommen, das sie in der Wirklichkeit besäßen. Eustach riet mir, eine Glastafel mit Canadabalsam zu überziehen, wodurch sie etwas rauher würde, so daß Farben auf ihr haften, ohne daß sie die Durchsichtigkeit verlöre und durch diese Tafel Fernen mit den an sie grenzenden näheren Gegenständen mittelst eines Pinsels zu zeichnen, und ich würde sehen, wie klein sich die größten und ausgedehntesten entfernten Berge darstellen und wie groß das zunächstliegende Kleine würde. Dieses Verfahren aber empfehle er nur, damit man zur Überzeugung der Verhältnisse komme und einen Maßstab gewinne, nicht aber, daß man dadurch künstlerische Aufnahmen von Landschaften mache, weil durch einen solchen Vorgang die künstlerische Freiheit und Leichtigkeit verloren würde, welche in Bezug auf Darstellung das Wesen und das Herz der Kunst sei. Das Auge soll nur geübt und unterrichtet werden, die Seele müsse schaffen, das Auge soll ihr dienen. In Hinsicht der Farbgebung der Fernen riet er mir, dort, wo ich einen Zweifel hätte, ob ich etwas sähe oder nur wisse, es lieber nicht anzugeben und überhaupt in der Farbe lieber unbestimmter als bestimmter zu sein, weil dadurch die Gegenstände an Großartigkeit gewinnen. Sie worden durch die Unbestimmtheit ferner und durch dieses allein größer. Durch Linien des Zeichnenstiftes auf dem kleinen Papiere oder der kleinen Leinwand könne man nichts groß machen. Durch Verdeutlichung werden die Körper näher gerückt und verkleinert. Wenn überhaupt ein Fehler gegen die Genauigkeit gemacht werden müsse — und kein Mensch könne Dinge, namentlich Landschaften, in ihrer völligen Wesenheit geben —, so sei es besser, die Gegenstände großartiger und übersichtlicher zu geben als in zu viele einzelne Merkmale zerstreut. Das erste sei das Künstlerischere und Wirksamere.
Ich sah sehr gut ein, was sie sagten, und wußte auch, woher die Fehler kämen, von denen sie redeten. Ich hatte bisher alle Gegenstände in Hinblick auf meine Wissenschaft gezeichnet, und in dieser waren Merkmale die Hauptsache. Diese mußten in der Zeichnung ausgedrückt sein und gerade die am schärfsten, durch welche sich die Gegenstände von verwandten unterschieden. Selbst bei meinem Zeichnen von Angesichtern hatte ich deren Linien, ihr Körperliches, ihre Licht- und Schattenverteilung unmittelbar vor mir. Daher war mein Auge geübt, selbst bei fernen Gegenständen das, was sie wirklich an sich hatten, zu sehen, wenn es auch noch so undeutlich war, und dafür auf das, was ihnen durch Luft, Licht und Dünste gegeben wurde, weniger zu achten, ja diese Dinge als Hindernisse der Beobachtung eher weg zu denken als zum Gegenstande der Aufmerksamkeit zu machen. Durch das Urteil meiner Freunde wurde mir der Verstand plötzlich geöffnet, daß ich das, was mir bisher immer als wesenlos erschienen war, betrachten und kennen lernen müsse. Durch Luft, Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die Gegenstände ein anderes Aussehen, dieses müsse ich ergründen, und die veranlassenden Dinge müsse ich, wenn es mir möglich wäre, so sehr zum Gegenstande meiner Wissenschaft machen, wie ich früher die unmittelbar in die Augen springenden Merkmale gemacht hatte. Auf diese Weise dürfte es zu erreichen sein, daß die Darstellung von Körpern gelänge, die in einem Mittel und in einer Umgebung von anderen Körpern schwimmen. Ich sagte das meinen Freunden, und sie billigten meinen Entschluß. Wenn der Nebel oder überhaupt die trübe Jahreszeit einen Blick in die Ferne gestattete, wurde das, was mit Worten gesagt wurde, auch an wirklichen Beispielen erörtert, und wir sprachen über die Art und Weise, wie sich die entfernten Gebirge oder Teile von ihnen oder näher gehende von der Hauptkette sich ablösende Gründe darstellten. Es ist unglaublich, wie sehr ich in jenem kurzen Herbstaufenthalte unterrichtet wurde.