Ich sprach mit meinem Gastfreunde auch von den Dichtern, welche ich las, und erzählte ihm von dem großen Eindrucke, welchen ihre Worte auf mich machten. Wir gingen bei Gelegenheit einmal in sein Bücherzimmer, er führte mich vor die Schreine, in welchen die Dichter standen, und zeigte mir, was er in dieser Hinsicht besaß. Er sagte auch, ich möchte während des Aufenthaltes in seinem Hause von den Büchern Gebrauch machen, wie ich wollte; ich könnte sie im Lesezimmer benützen oder auch in meine Wohnung mit hinübernehmen. Es waren Werke in den ältesten Sprachen da, von Indien bis nach Griechenland und Italien, es waren Werke der neueren Zeiten da und auch der neuesten. Am zahlreichsten waren natürlich die der Deutschen.
»Ich habe diese Bücher gesammelt«, sagte er, »nicht als ob ich sie alle verstände; denn von manchen ist mir die Sprache vollkommen fremd; aber ich habe im Verlaufe meines Lebens gelernt, daß die Dichter, wenn sie es im rechten Sinne sind, zu den größten Wohltätern der Menschheit zu rechnen sind. Sie sind die Priester des Schönen und vermitteln als solche bei dem steten Wechsel der Ansichten über Welt, über Menschenbestimmung, über Menschenschicksal und selbst über göttliche Dinge das ewig Dauernde in uns und das allzeit Beglückende. Sie geben es uns im Gewande des Reizes, der nicht altert, der sich einfach hinstellt und nicht richten und verurteilen will. Und wenn auch alle Künste dieses Göttliche in der holden Gestalt bringen, so sind sie an einen Stoff gebunden, der diese Gestalt vermitteln muß: die Musik an den Ton und Klang, die Malerei an die Linien und die Farbe, die Bildnerkunst an den Stein, das Metall und dergleichen, die Baukunst an die großen Massen irdischer Bestandteile, sie müssen mehr oder minder mit diesem Stoffe ringen; nur die Dichtkunst hat beinahe gar keinen Stoff mehr, ihr Stoff ist der Gedanke in seiner weitesten Bedeutung, das Wort ist nicht der Stoff, es ist nur der Träger des Gedankens, wie etwa die Luft den Klang an unser Ohr führt. Die Dichtkunst ist daher die reinste und höchste unter den Künsten. Da ich nun meine, daß es so ist, wie ich sage, so habe ich die Männer, welche die Stimme der Zeiten als große in der Kunst des Dichtens bezeichnete, hier zusammengestellt. Ich habe Dichter in fremden Sprachen, die ich nicht verstand, dazu getan, wenn ich nur wußte, daß sie in der Geschichte ihres Volkes vorzüglich genannt werden, und wenn ich von einem Fachmanne das Zeugnis hatte, daß ich in dem Buche den Dichter besitze, den ich meine. Sie mögen unverstanden hier stehen oder es man wohl einer oder der andere in diesen Saal kommen, der manchen versteht und liest. Ich habe wohl auch solche Bücher hieher gestellt, die mir gefallen, das Urteil der Zeit mag anders lauten oder erst festzustellen sein. In diesen Büchern habe ich viel Glück gefunden und in dem Alter fast noch mehr als in der Jugend. Wenn auch die Jugend die Worte aus einem goldenen Munde mit einem Sturme und mit Entzücken aufnimmt, wenn sie auch dieselben mit einer Art Schwärmerei und mit Sehnsucht in dem Busen trägt, so ist es doch fast stets mehr die Wärme des eigenen Gefühles, die sie empfindet, als daß sie die fremde Weisheit und Größe in ein besonnenes, betrachtendes, abwägendes Herz aufnehmen könnte. Ihr seid selber jung, und die Tiefe und Innigkeit der Dichtung mag euch fördern und euer Herz jedem künftigen Großen öffnen, wie die reine Dichtkunst das immer an der Jugend tut; aber ihr werdet selber einmal sehen, um wie viel milder und klarer die verglühende Sonne des Alters in die Größe eines fremden Geistes leuchtet als die feurige Morgensonne der Jugend, die alles mit ihrem Glanze färbt, so wie es eine Tatsache ist, daß die innige, wahre und treue Liebe der alternden Gattin fester und dauernder beglückt als die lodernde Leidenschaft der jungen, schönen, schimmernden Braut. Die Jugend sieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und Unendlichkeit der Zukunft, diese verhüllt die Mängel und ersetzt das Abgängige. Sie dichtet in das Kunstwerk, was im eignen Herzen lebt. Daher kömmt die Erscheinung, daß Werke von bedeutend verschiedener Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können, und daß Erzeugnisse höchster Größe, wenn sie keine Wiederspieglung der Jugendblüte sind, nicht erfaßt werden können. In dem Alter werden selbst solche Glanzstellen der Jugend, die schon sehr ferne liegen, wie etwa die Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und Grenzenlosigkeit, oder wie die holde und berauschende Seligkeit der Gegenliebe, oder die Träume künftiger Taten und künftiger Größe, der Blick in ein unendliches, erst kommendes Leben, oder wie das erste Stammeln in irgend einer Kunst, von dem Greise in dem sanften Spiegel seiner Erinnerung beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der sie in dem Brausen seines Lebens überhört, und an der grauen Wimper mag manche beseligendere und mitunter schmerzlichere Träne hängen als der feurige Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem Auge des Jünglings springt und keine Spur hinterläßt. Ich lese jetzt selten mehr die größten Geister im Zusammenhange — mit kleineren tue ich es wohl, weil sie in einzelnen Stellen minder bedeutend sind —, aber ich lese immer in ihnen und werde wohl bis zu meinem Lebensende in ihnen lesen. Sie begleiten mich mit ihren Gedanken wie mit großen Erquickungen durch den Rest meines Lebens und werden mir wohl, wie ich ahne, an der dunkeln Pforte Kränze aufhängen, als wären sie von meinen eigenen Rosen geflochten. Deshalb gebe ich auch kein Buch aus dem Hause, weil ich nicht weiß, ob ich es nicht in nächster Zeit selber brauchen werde. Im Hause stehen sie jedem, der davon Gebrauch machen will, zu Gebote. Nur für Gustav wird eine Auswahl getroffen, weil er noch zu jung ist und nicht alles sondern kann. Er würde hier zwar nichts gänzlich Schlechtes finden; aber nicht alles Gute würde er verstehen, und dann wäre die daran gewendete Zeit verloren; oder er könnte es mißverstehen, und dann wäre der Erfolg ein unrichtiger. Das Schlechte, das sich Dichtkunst nennt, ist der Jugend sehr gefährlich. In der Wissenschaft zeigt es sich viel leichter auf. In der Mathematik liegt es in der Darstellung, da solche Werke wohl kaum vorkommen dürften, in denen sogar der Stoff fehlerhaft wäre, in der Naturwissenschaft liegt es in der Darstellung wie im Stoffe, in welch letzterem es sich in der Gestalt gewagter Behauptungen ausspricht; nur in der sogenannten Weisheitslehre kann es verborgener sein gleichwie in der Dichtkunst, weil manche Weisheitslehre wie Dichtkunst zusammen gestellt ist und wirkt: aber in den Werken der eigentlichen Dichtkunst versteckt es sieh vor dem blühenden Gemüte des Jünglings, dieser breitet seine Blüten und seine Begierden darüber und saugt das Gift in sich. Ein klarer Verstand, der sich von Kindheit an eben zur Klarheit hingeübt hat, und ein gutes, reines Herz sind Schutzwehren vor Schlechtigkeit und Sittenlosigkeit von Dichtungen, weil der klare Verstand den hohlen Schwulst von sich abweist und das reine Herz die Unsittlichkeit ablehnt. Aber Beides geschieht nur gegen die Entschiedenheit des Schlechten. Wo es in Reize verhüllt ist und mit Reinem gemischt, dort ist es am bedenklichsten, und da müssen Ratgeber und väterliche Freunde zu Hilfe stehen, daß sie teils aufklären, teils von vornherein die Annäherung des Übels aufhalten. Gegen die Schlechtigkeit in der Darstellung oder gegen die lange Weile braucht man kein Mittel als sie selber. Ihr seid zwar noch jung; aber ihr seid nicht so jung zu dem Lesen von Dichtern gekommen wie die meisten unserer Jünglinge, und ihr habt so viel in Wissenschaften gelernt, daß ich glaube, daß man euch alle Dichter in die Hände geben kann, ohne Gefahr zu befürchten, selbst bei solchen, die in ihrem Amte sehr zweifelhaft sind. Euer Geist wird sich wohl heraus finden und gerade dadurch noch mehr klären. Da ich von der Weisheitslehre sprach, welche man in unserem deutschen Lande noch immer als Weisheitsliebe mit dem griechischen Worte Philosophie bezeichnet, muß ich euch sagen, was ihr wohl vielleicht schon aus anderen Reden von mir gemerkt haben mögt, daß ich nicht gar sehr viel auf sie halte, wenn sie in ihrem eigenen und eigentümlichen Gewande auftritt. Ich habe alte und neue Werke derselben mit gutem Willen durchgenommen; aber ich habe mich zu viel mit der Natur abgegeben, als daß ich auf ledigliche Abhandlungen ohne gegebener Grundlage viel Gewicht legen könnte, ja sie sind mir sogar widerwärtig. Vielleicht reden wir noch ein anderes Mal von dem Gegenstande. Wenn ich je einige Weisheit gelernt habe, so habe ich sie nicht aus den eigentlichsten Weisheitsbüchern, am wenigsten aus den neuen — jetzt lese ich gar keine mehr — gelernt, sondern ich habe sie aus Dichtern genommen oder aus der Geschichte, die mir am Ende wie die gegenständlichste Dichtung vorkömmt.«