Wie entschlossen und intensiv sie sich auf das antike Manuskript stürzte, das entzückte ihn. Er sah eine wiedergeborene Taniane in ihr, und das führte ihn zurück in die Tage seiner Jugend, als er mit Taniane Vengiboneeza durchstöbert hatte, auf der Suche nach den Geheimnissen der Großen Welt.
Aber Nialli war natürlich etwas mehr als nur der Abklatsch ihrer Mutter. Er entdeckte auch den Hresh in ihr. Sie war impulsiv und unstet gewesen, ein nervöses, ein eigenwilliges Kind, genau wie er. Vor der Gefangenschaft bei den Hjjks war sie neugierig und überschwenglich gewesen, aber auch (wie Hresh es war) einsam, psychotisch, von unersättlicher Neugier, unangepaßt. Wie sehr er sie liebte! Wie tief er mit ihr fühlte!
Sie blickte von der Schriftrolle auf. „Es ist wie eine Sprache, wie man sie im Traum hört. Nichts bleibt lang genug fest, daß ich den Sinn erkennen könnte.“
„So ging es mir zuerst auch. Aber jetzt nicht mehr.“
Sie schob ihm das Skript hin, er legte die Finger darauf, und die seltsamen archaischen Wortgebilde stiegen in sein Bewußtsein herauf.
„Es ist ein Dokument aus den ganz frühen Jahren des Langen Winters“, sagte er. „Alle Stämme des VOLKES waren gerade erst in die Kokons gezogen. Und es gab da einige Beng-Krieger, die einfach nicht glauben wollten, daß sie ihr ganzes Leben lang versteckt in Höhlen sollten zubringen müssen. Und einer von denen veranstaltete einen ‚Aufbruch‘, um herauszufinden, ob man die äußere Welt zurückerobern könnte. Du mußt dir verdeutlichen, daß dies Tausende Jahre vor unseren eigenen drei verfrühten Versuchen eines Auszugs aus dem Kokon stattfand. Die nennen wir heute das ‚Kalte Erwachen‘, ‚Trugglühen‘ und ‚Unselige Morgenröten‘. Der Großteil des Texts fehlt, doch was wir haben, lautet so:
„…und sodann stand ich in dem Eisland, und eine Todesbeklemmnis überkam mein Herz, denn ich erkannte, ich würde nicht leben. Sodann wandte ich mich und suchte den Ort unseres Volkes, doch konnte ich den Eingang zur Höhle nicht mehr finden. Und sodann kamen welche vom Hjjk-Volk über mich und packten mich an selbiger Stelle, und legten Hand an mich, und schleppten mich hinweg. Ich aber war frei von Furcht, da ich ja schon dem Tod anheimgefallen war, und welcher Tapfere kann mehr als einmal sterben? Es waren ihrer zwanzig und gar grauenvoll ihr Anblick, und sie nahmen mich gewaltsam mit ihren Klauenhänden und brachten mich an jenen warmen dunklen Ort, woselbst sie hausen, und war es dortselbst wie in einem Kokon, nur gewaltig viel größer, und er erstreckte sich unter der Erde, weiter, als ich zu sehen vermochte, und gab es dortselbst zahlreiche große Straßen und Seitengänge, die in jegliche Richtung abzweigten.
Es befand sich aber an diesem Ort auch der Sitz der Groß-Hjjken, welche ein Ungeheuer ist und von ungeheurem, höchst erschrecklichem Übermaß, bei dessen Anblick mir das Blut rückwärts durch die Adern floß. Sie aber berührte meine innerste Seele und mein Herz mit ihrem Zweiten Gesicht und sprach zu mir also: Siehe, ich schenke dir Frieden und Liebe. Ich aber fürchtete mich nicht. Denn es war diese Berührung, als ihre Seele meine Seele ergriff, als nähme mich eine Große Mutter in IHRE Arme und an IHR Herz, und es verwunderte mich gewaltig, daß ein so riesenhaft furchtbares Tier mir solche Tröstung bieten konnte. Und abermals sprach sie und sagte: Zu früh bist du zu MIR gekommen, denn MEINE Zeit ist noch nicht da. Wenn aber die Welt erwachen wird und ein Ort der Wärme sein, dann will ICH euch alle in MEINE Arme schließen. Und dies waren alle Worte, die sie zu mir sprach, und fortan hörte ich sie nicht mehr. Ich weilte aber unter diesen Hjjks zwanzig Tag und zwanzig Nächte lang, welche ich höchst sorgsam zählte, und es kamen zu mir und bestürmten mich mit den Stimmen ihres inneren Wachseins Hjjks von geringerem Rang mit zahlreichen Fragen über mein VOLK, und wie wir leben und was unser Glaube ist, und sie sagten zu mir auch etliches, wie ihr Glaube sei, aber dies alles ist nun nur mehr wie ein Nebel in meinem Kopf und war es wohl auch zu der Zeit, da sie mir davon sprachen. Ich aß aber auch von ihrer Speise, welche ein abscheulicher Brei ist, welchen sie vorkauen und dann aus sich herausspucken, auf daß ihre Gefährten ihn nach ihnen noch einmal verzehren, was mich anfangs mit einigem Ekel abstieß, aber später überwältigte mich der Hunger, und so aß ich dennoch von dieser Speise und fand sie weniger widerwärtig, als mancher vielleicht denken mag. Als sie aber abließen, mich zu befragen, sprachen sie zu mir: Wir wollen dich nun zu deinem Volk heimführen, und sie führt mich hinaus in bittere Kälte und tödlichen Schnee und brachten mich hinweg bis.“
Hresh ließ die Schriftrolle sinken.
„Und damit endet es?“ fragte Nialli.
„Das Manuskript bricht hier ab. Aber was wir haben, ist doch deutlich genug.“
„Und was schließt du daraus, Vater?“
„Ich vermute, es erklärt, warum die Hjjks Gefangene machen. Sie tun das anscheinend seit Tausenden von Jahren. Allem Anschein nach, damit sie uns studieren können. Aber sie behandeln ihre Gefangenen sorgsam und lassen sie nach einiger Zeit wieder frei, immerhin manche, wie etwa diesen armen Trottel von Bengkrieger, den sie retteten, als er in den Eisfeldern herumirrte.“
„Also deshalb glaubst du inzwischen nicht mehr, daß die Hjjks Ungeheuer sind.“
„Ich habe niemals geglaubt, daß sie Ungeheuer sind“, sagte Hresh. „Feinde, ja. Erbarmungslose, gefährliche Feinde. Vergiß nicht, ich war dabei, als sie Yissou angegriffen haben. Doch vielleicht sind sie nicht einmal Feinde. Nach all der langen Zeit wissen wir bis heute noch nicht einmal genau, was sie sind. Wir haben uns nie die Mühe gemacht, auch nur Ansätze zu ihrem Verständnis zu machen. Wir hassen sie — schlicht und einfach, weil wir nichts über sie wissen.“
„Und sie werden uns wahrscheinlich immer unbekannt bleiben.“
„Ach? Und ich habe gedacht, du verstehst sie.“
„Ich verstehe sehr wenige Dinge, Vater. Ich hab mir vielleicht eingebildet, daß ich es tue. Ich hab mich geirrt. Wer versteht schon, warum die Himmlischen Fünf uns Wirbelstürme schicken, Hitzewellen oder Kälteperioden, oder Hungersnöte? Sie müssen ja doch wohl ihre Gründe dafür haben. Aber wie könnten wir uns anmaßen, zu bestimmen, was sie sind? Und das gilt auch für die Königin. Sie ist wie eine Kraft aus dem Universum. Es ist unmöglich, SIE zu erfassen und zu begreifen. Ich weiß ein klein bißchen, wie das Nest ist, wie seine Form ist, wie die Atmosphäre ist, wie man dort lebt. Aber das ist bloßes Wissen. Und Wissen heißt nicht Verstehen. Ich habe allmählich erkannt, daß keiner aus dem VOLK auch nur ansatzweise wird verstehen lernen können, was die KÖNIGIN bedeutet. Außer vielleicht jemand — der selbst im Nest war.“
„Aber du warst doch dort. Im Nest.“
„Ja, aber nur in einer kleinen Filiale. Was ich dort an Wahrheiten erfuhr, waren Kleinwahrheiten. Aber die Königin-der-Königinnen, die hoch droben im Norden residiert, sie ist die Quelle der wahrhaftigen Offenbarungen. Ich hatte gedacht, sie würden mich ihr zuführen, wenn ich älter geworden wäre; aber statt dessen haben sie mich laufen lassen und hierher nach Dawinno zurückgebracht.“
Hresh blinzelte verwirrt. „Sie haben dich — laufenlassen? Uns hast du aber gesagt, du bist geflohen.“
„Nein, Vater, ich bin nicht geflohen.“
„Nicht? Nicht geflohen?“
„Aber natürlich nicht! Sie haben mich freigelassen — genau wie den Beng da in deiner Chronik. Warum auch hätte ich einen Ort verlassen sollen, an dem ich vollkommen glücklich war — zum erstenmal in meinem Leben?“
Die Worte trafen ihn schmerzhaft wie Hiebe. Doch Nialli sprach fröhlich weiter.