„Ich mußte gehen. Freiwillig und aus eigenen Stücken wäre ich niemals dort weggegangen. Egal, ob das Nest nun ein guter oder ein böser Ort ist, eines ist wahr: Solange du drin bist, fühlst du dich höchst sicher und geborgen. Du weißt einfach, du lebst an einem Ort, an dem Zweifel, Ungewißheit und Qual unbekannt sind. Ich habe mich dem vollkommen preisgegeben, mich überantwortet. Mit Freuden. Und wer würde das nicht tun? Aber eines Morgens holten sie mich und erklärten mir, ich sei nun so lange bei ihnen geblieben, wie es nötig sei, und dann brachten sie mich hinaus und verfrachteten mich auf einem Zinnobären bis hierher an die Stadtgrenze und ließen mich dann laufen.“
„Aber du hast uns doch erzählt, du bist ihnen entronnen“, stammelte Hresh wie betäubt.
„Nein. Du und meine Mutter, ihr habt entschieden, daß ich ihnen entronnen bin. Wahrscheinlich, weil es euer Vorstellungsvermögen überstiegen hätte zu akzeptieren, daß jemand es vorziehen könnte, im Nest zu bleiben, anstatt hierher zurückzukehren, nach Dawinno in die Heimat. Nun, ich habe euch nicht widersprochen. Ich habe überhaupt nichts gesagt. Ihr habt unterstellt, daß ich den Klauen der widerlichen Wanzenmonster entfliehen konnte, wie das der Wunsch einer jeden vernünftigen Person zu sein hat, und ich habe euch in dem Glauben gelassen, weil ich wußte, ihr brauchtet dringend diese Überzeugung, und außerdem fürchtete ich, wenn ich euch irgendwas sagen würde, was der Wahrheit auch nur nahekam, ihr würdet mich für unzurechnungsfähig erklären. Wie hätte ich euch also die Wahrheit sagen können? Wenn jeder Bürger in dieser Stadt glaubt, daß die Hjjks scheußliche raubgierige Dämonen sind, und wenn ihr das seit ewigen Zeiten glaubt, und ich stelle mich dann hin und sage, nein, das ist nicht so, ich habe bei ihnen nur Liebe und Wahrheit gefunden, wer wird mir dann glauben? Wird man mir nicht vielmehr bestenfalls ein bißchen mitleidige Verachtung zuteil werden lassen?“
„Ja. Ja, ich verstehe.“ Die Bestürzung und das elende Versagergefühl wichen allmählich von Hresh. Nialli wartete stumm. Schließlich sagte er, sehr leise: „Ich verstehe, daß du uns belügen mußtest, Nialli. Jetzt verstehe ich das. Ich verstehe jetzt eine Menge Dinge besser.“ Er verstaute den alten Beng-Papyros, verschloß den Schriftkasten und ließ die Hände auf dem Deckel ruhen. „Wenn ich damals schon gewußt hätte, was ich jetzt weiß, es wäre anders gekommen.“
„Was willst du damit sagen?“
„Die Hjjks. Das Nest.“
„Ich versteh nicht, worauf du hinauswillst.“
„Ich habe inzwischen eine Vorstellung davon, wie das NEST ist. Die gewaltige lebendige Maschine, die es darstellt. Die perfektionie rte Planung, nach der sich alles, um die sich alles dreht — um die lenkende Intelligenz — die Königin. die ihrerseits die Verkörperung der Steuerungskraft im Universum.“
Nun war es an Nialli, verblüfft zu sein. „Aber — du redest ja fast wie einer, der im Nest war!“
„War ich“, sagte Hresh. „Und das war auch etwas, das ich dir noch sagen mußte.“
Niallis Augen blitzen vor ungläubiger Überraschung. „Was? Du warst im Nest? Du? “ Sie wich zurück, erhob sich und stemmte sich mit beiden Händen gegen die Tischkante. Vor Verblüffung stand ihr der Mund offen. „Was erzählst du mir da, Vater? Soll das vielleicht ein Witz sein? Die Sache ist aber ganz und gar nicht spaßig.“
Er nahm ihre Hand wieder und sagte: „Ich hab wirklich die kleineren Nester gesehen, wie das, in das du entführt worden bist. Und einmal näherte ich mich dem Hauptnest mit der Großkönigin darin. Doch ich kehrte um, ehe ich es erreicht hatte.“
„Wann? Wie?“
Er lächelte mild. „Nicht wirklich körperlich, Nialli. Ich war nicht real dort. Es geschah mit Hilfe des Barak Dayir.“
„Aber dann warst du doch dort!“ rief sie und packte ihn erregt am Arm. „Der Barak Dayir gibt dir Wahrvisionen, Vater. Das hast du mir selber gesagt. Du hast in das Nest geschaut! Darum mußt du auch die Nest-Wahrheit kennen. Verstehst du nicht?“
„Verstehe ich? Ich fürchte, ich bin sehr weit von jeglichem Verständnis entfernt.“
„Aber nein!“
Er schüttelte den Kopf. „Vielleicht verstehe ich ein wenig. Aber nur sehr wenig, fürchte ich. Ich begreife vielleicht ein paar Ansätze. Ich hatte nur eine flüchtige Vision, Nialli. Und sie dauerte nur einen Augenblick.“
„Auch ein Augenblick wäre schon genug. Ich versichere dir, Vater, es gibt keine Möglichkeit, mit dem Nest in Berührung zu kommen, ohne die Nest-Wahrheit zu erleben. Und damit weiß man von der NestBindung, dem Ei-Plan, von allem.“
Er forschte in seinem Gedächtnis. „Ich weiß aber nicht, was diese Worte begrifflich bedeuten, nicht so recht jedenfalls.“
„Wir haben vor ganz kurzem davon gesprochen. Als du das Nest eine gewaltige lebende Maschine genannt hast und von der Vollkommenheit seiner Struktur sprachst.“
„Sprich mir davon, sag mir mehr!“
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie schien tief in sich selber zu entweichen. „Nest-Bindung“, sprach sie dann mit seltsam hochgeschraubter Stimme, als sagte sie eine auswendig gelernte Lektion auf, „ist das klare Bewußtsein der Beziehung eines jeglichen Dinges im Universum mit allen anderen. Wir sind alle Teile des Nestes, sogar jene unter uns, die nie eine solche Erfahrung gemacht haben, auch die, für die Hjjks furchteinflößende Ungeheuer sind. Denn alles ist in einem einzigen großen Muster miteinander verwoben, welches da ist die unendliche, unbremsbare Energie des Lebens. Die Hjjks sind nur das Medium, der Träger, in denen sich diese Kraft in unserer Zeit manifestiert; und die Königin ist der Leitstrahl in unserer Welt. Das ist Nest-Wahrheit. Und der Ei-Plan ist die Energie, die die Königin zum Ausdruck bringt durch die Hervorbringung eines unablässigen Stromes von Erneuerung. Königin-Licht ist das Glühen ihrer Wärme; Königin-Liebe das Symbol ihrer großen liebevollen Fürsorge für uns alle.“
Von dem plötzlichen Ausbruch von ungewohnter Beredtheit reagierte Hresh verdutzt und wie vom Blitz gestreift. Die Worte waren fast hemmungslos aus ihr hervorgesprudelt, fast als spräche jemand (oder etwas?) anderes durch sie. Ihr Gesicht glühte, die Augen leuchteten vom Feuer absoluter, unerschütterbarer Überzeugung. Sie wirkte wie von einem plötzlichen Anfall visionärer Glaubensglut emporgsrissen: Sie flammte geradezu, sie loderte.
Dann flackerte die Flamme, erlosch, und sie war wieder nur Nialli Apuilana. Und genauso durcheinander und beunruhigt wie zuvor.
Sie hockte betäubt und schlaff vor Hresh. Was für ein rätselhaftes Geschöpf sie doch ist, dachte er.
Aber was diese anderen Rätsel betraf, die des Nests — sie waren gewaltig und kompliziert, und er wußte, nur auf diese Weise davon zu hören, würde ihm niemals den wahren Zugang zu ihnen vermitteln können. Er wünschte sich nun, er wäre damals länger verweilt, als er die Barak-Dayir-Reise in das Hjjk-Land unternahm. Er begriff, daß er, sehr bald schon, diese Fahrt erneut unternehmen müsse, um eine viel tiefere Erkenntnis des Nests als beim erstenmal zu erlangen. Er mußte erfahren, was Nialli dort begriffen hatte, und zwar aus erster Hand und direkt. Und sollte ihn diese Erfahrung auch das Leben kosten. Er fühlte sich sehr müde. Und Nialli wirkte erschöpft. Hresh begriff, daß sie für diesmal am Ende ihres Gespräches angelangt waren und nicht weiterkommen würden.
Doch Nialli war offenbar noch nicht dazu bereit. „Nun?“ fragte sie. „Was sagst du dazu? Verstehst du jetzt, was Nest-Bindung bedeutet? Ei-Plan? Königin-Liebe?“
„Nialli, du siehst so erschöpft aus.“ Er strich ihr über die Wange. „Du solltest gehen und dich ein bißchen ausruhen.“
„Das werde ich. Aber erst sag mir, daß du verstanden hast, was ich dir gesagt habe, Vater. Und ich hätte es ja eigentlich auch gar nicht sagen müssen, ist es nicht so? Das alles hast du doch bereits gewußt, oder? Du mußt es doch gesehen haben, als du mit deinem Wunderstein ins Nest geschaut hast.“