Trotz der Vorwarnungen war er bestürzt über die Verwandlung, die seit dem Sommer mit Taniane geschehen war. Sie sah aus, als wäre sie hundert Jahre alt. Es war kaum zu glauben, daß dieses trübäugige, stumpffellige Weib der wilde hitzige Häuptling sein sollte, der so viele Dekaden lang diese Stadt mit starker Hand regiert hatte. Die grotesken Masken der früheren Häuptlinge an der Wand hinter ihr schienen Tanianes müde Schlaffheit höhnisch zu unterstreichen. Thu-Kimnibol schämte sich beinahe, daß er selber so vital und stark war.
„Endlich“, sagte sie. „Ich hab schon geglaubt, du kommst überhaupt nicht mehr zurück.“
„Die Verhandlungen mit Salaman waren kompliziert. Und sie erforderten ziemlich viel taktvolle Planung. Außerdem hat er sich enorm bemüht, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.“
„Ein seltsamer Mann, dieser Salaman. Ich hätte eher erwartet, daß er dich noch immer haßt.“
„Ich zunächst auch. Aber das alles sind inzwischen alte Geschichten. Er war ausgesprochen lieb und freundlich.“
„Salaman? Lieb und freundlich?“ Taniane brachte ein blasses Lächeln zustande. „Nun ja, vielleicht. Sogar die Hjjks, sagt man, können lieb und freundlich sein.“ Sie sank in ihren Sessel zurück. Mit einer Stimme, die aus einer tiefen Gruft zu dringen schien, sprach sie dann: „Hier hat sich inzwischen eine Art Wahnsinn ausgebreitet, mein Thu-Kimnibol. Ich habe fast keine Kontrolle mehr über die Dinge. Ich brauche alle Hilfe, die du mir geben kannst.“
„Ich hab dich noch nie dermaßen verzagt erlebt, Schwester.“
„Du hast von dieser neuen Religion gehört? Diesem Kundalimon-Glauben?“
„Hjjk-Glauben, meinst du wohl.“
„Ja. In Wahrheit läuft es auf das hinaus.“
„Die Herbstkarawane hat uns darüber einiges berichtet.“
„Die Anhänger dieses Glaubens — und es sind ihrer Hunderte, Thu-Kimnibol, vielleicht Tausende! — bedrängen mich, diesen Vertrag mit der Königin zu akzeptieren. Jeden Tag überhäufen sie mich mit Petitionen. Sie marschieren zu Demonstrationen vor dem Präsidium auf. In der Öffentlichkeit, auf den Straßen brüllen sie mich an. Ich sage dir, dieser junge Mann hat in den paar Wochen, die er unter uns weilte, die Köpfe unserer Kinder mit einem Gift verseucht. Bei den Göttern, Thu-Kimnibol, ich sag dir, ich wünschte, man hätte ihn eher umgebracht!“
Beunruhigt sagte er: „Aber du hast doch sicher nichts mit seinem Tod zu tun gehabt, Taniane?“
In ihren Augen blitzte kurz das alte Feuer auf. „Nein! Natürlich nicht! Ganz und gar nicht! Bin ich etwa eine Mörderin? Ich hatte keine Ahnung, daß der Junge einen derartigen Schaden anrichten würde. Außerdem war er der Geliebte von Nialli. Glaubst du etwa, ich hätte ihn deswegen beseitigen lassen wollen? Nein, Bruder, ich hatte damit nichts zu tun. Und ich wünschte, ich wüßte, wer das getan hat.“
„Er war ihr — Geliebter?“ fragte Thu-Kimnibol erschüttert.
„Ja, hast du das denn nicht gewußt? Sie waren Kopulationspartner und überdies auch noch Tvinnr-Partner. Ich dachte, das ist inzwischen allgemein bekannt.“
„Ich war mondelang fort, Schwester.“
„Aber du scheinst sonst über alles gut unterrichtet zu sein, was sich hier abspielte.“
„Ihr Geliebter“, wiederholte Thu-Kimnibol, der diese Vorstellung noch immer nicht verdaut hatte. „Also, daran hätte ich nie gedacht. Aber wie plausibel das plötzlich wird! Kein Wunder, daß sie den Verstand verloren hat, als er getötet wurde.“ Er schüttelte den Kopf. Die Vorstellung, daß seine Brudertochter sich überhaupt einen Geliebten nehmen könnte, nachdem sie sich die ganze Zeit dermaßen erhaben über derlei gegeben hatte, war befremdlich genug. Daß sie sich dann aber ausgerechnet diesen verträumten Hjjk-Zögling auserwählen mußte. Das sieht ihr wirklich ähnlich, dachte er. Und daß der sich dann auch noch umbringen lassen muß. Wie traurig. „Die Götter waren nicht sehr freundlich zu dem Mädchen“, sagte er. „Es scheint irgendwie nicht gerecht, daß jemand so Junges dermaßen viele Erschütterungen erleben muß. Ich nehme an, sie hat sich nun fest dieser neuen Religion verschrieben?“
„Nicht daß ich wüßte. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, dann müßte das wohl so sein. Aber man berichtet mir, daß sie immer nur in ihrem Zimmer im Nakhaba-Haus sitzt und kaum je ausgeht. Auch ich sehe sie nicht sehr oft, verstehst du?“ Taniane lachte bitter. „Begreifst du nun, was hier los ist? Mein eigenes Kind ist mir so fremd geworden, als wäre sie eine Hjjk. Mein Lebenspartner versteckt sich wie üblich im Haus des Wissens und vergräbt sich völlig in Wichtigkeiten, die zehn Millionen Jahre alt sind. Mein Volk blökt mich an, ich solle einen Vertrag unterschreiben, der unser Ende bedeutet. Es wurden Stimmen laut, die sogar meinen Rücktritt fordern, hast du davon gehört, mein Thu-Kimnibol? ‚Du bist schon viel zu lang im Amt‘, sagen sie mir, fast direkt ins Gesicht. ‚Es wird Zeit, daß du Platz machst!‘. Bei den Göttern, Thu-Kimnibol, ich wünschte, ich dürfte mir wünschen, das zu tun!“
„Taniane — meine liebe arme Taniane.“, begann er mit seiner sanftesten Stimme.
Ihre Augen begannen zu lodern. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! Ich brauche dein Mitgefühl nicht! Ich brauche überhaupt kein Mitleid! Von niemandem!“ Und weniger scharf setzte sie hinzu: „Ich brauche Unterstützung. Begreifst du nicht, wie isoliert ich hier bin? Wie hilflos? Und erkennst du nicht, was für Belastungen wir ausgesetzt sind? Was hast du mir sonst noch zu bieten, Thu-Kimnibol, außer Mitleid?“
„Ich kann dir einen Krieg bieten“, sagte er.
„Einen — Krieg?“
„Falls das Präsidium die Ratifizierung vornimmt, haben wir bald einen Allianzpakt mit der Yissou-Stadt. Damit wären wir verpflichtet, Salaman zu Hilfe zu kommen, wenn seine Stadt von den Hjjks angegriffen werden sollte; und ich kann dir versichern, es bestehen gar keine Zweifel daran, daß Yissou und die Hjjks in Kürze, und zwar sehr bald, im Kriegszustand sein werden. Und damit dann auch wir. Und danach wird es hier in unserer Stadt Hochverrat sein, etwas Hjjk-Freundliches zu äußern, denn dann sind sie offiziell der Feind. Und damit wäre dann dem ganzen Gequassele ein Ende gemacht, daß wir das Vertragsangebot der Königin annehmen sollen. Und auch dieser verderblichen neuen Religion, die da mitten unter uns frech ihr Haupt erhebt. Und auch allen anderen Sorgen, die du hast, Schwester. Was sagst du dazu? Na? Wie findest du das?“
„Darüber möchte ich gern erst noch etwas mehr wissen“, sagte Taniane. Und Thu-Kimnibol hatte den Eindruck, als wären in einem Augenblick die lastenden Schuppen vieler Jahre von ihr abgefallen.
„Na, da sind wir ja allesamt endlich mal wieder beisammen!“ rief Boldirinthe. „Du warst aber wirklich scheußlich lang weg, Simthala Honginda! Wie ergötzlich, daß ihr endlich alle wieder hier unter uns seid!“
Und es war wirklich ein Freudentag für die alte Opferfrau, daß ihr ältester Sohn aus dem Norden heimgekehrt war. Und sogar der endlos herabprasselnde Regen hatte für eine Weile nachgelassen. Zum erstenmal seit Monden war ihre gesamte Familie um sie versammelt — daheim, in dem warmen gemütlichen Nest auf dem Hügel, das sie mit Staip bewohnte: ihre drei Söhne nebst Partnern, ihre Tochter mit ihren Partnern. und die ganze Trabantenschar ihrer Enkelkinder. Boldirinthe ruhte gemütlich in ihren Fettmassen, wohlig eingehüllt in ihrem gewaltigen Leib wie in einem Hügel von Decken, und sie kamen alle nacheinander zu ihr, um sich umarmen zu lassen. Nach der Embrassade hievte man sie hoch und schleppte sie zu Tisch, wo dann auch bald das Essen und der Wein gebracht wurden. Es gab als Hors-d’reuvre gegrillte Scantrine, die kleinen saftigschenkligen Tierchen aus der Bucht, nicht ganz Fisch und nicht ganz Echslein, irgendwo so mitten drin; und danach gewaltige Schüsseln voll dampfender Kiwinfrüchte; und als Krönung ein Vimborbraten in Teigkruste und dazu Ströme von dem guten dunklen Emakkis-Wein, um das alles hinunterzuspülen. Und nach dem Schmaus sangen sie und erzählten alte Geschichten, und Staip — wie er das bei solchen Anlässen stets tat — erging sich in langwierigen Erinnerungen an die erschreckliche Not, die das VOLK auf seinen Wanderungen nach dem Auszug aus dem Kokon nach Vengiboneeza erdulden mußte, und von Vengiboneeza in die Südlande... und irgendeiner der Enkel sagte ein Gedicht auf, das er verfaßt hatte, und eine Enkelin klimperte ein Musikstück auf dem Serilingion. Und der Wein floß reichlich, und es herrschte allgemein Lachen und Fröhlichkeit. Doch es fiel Boldirinthe auf, daß ihr Junge, zu dessen Ehren das alles veranstaltet wurde, daß Simthala Honginda ziemlich schweigsam dasaß, ab und zu pflichtschuldig lächelte und daß es ihn allerhöchste Anstrengung kostete, den Vorgängen ringsum auch nur flüchtig-freundliche Aufmerksamkeit zu schenken.