Von einem Augenblick zum anderen war ihr ganzer wilder empörter Zorn erloschen, und sie befand sich in einem merkwürdigen Zustand der Leere, der Benommenheit, fast als wäre sie scheintot. Wieso sollte es sie bekümmern, was mit dem Nest geschah? Und warum brannte sie so sehr darauf, ihr eigenes Leben für das Wohl der Königin zu opfern?
Und dann, in all ihrer Benommenheit, begriff sie, daß diese ganzen wilden Verzweiflungsgedanken, die in ihrer Seele so unfreiwillig heraufgeschossen waren, völlig unhaltbar und substanzlos waren.
Sie waren Trug und Talmi. Nichts weiter als automatische Reaktionen, bar jeden echten Gefühls. Ein letztes Aufzucken der glühenden Loyalitätsflamme, die einstmals für die Königin in Niallis Seele gelodert hatte. Aber das hier war ihr VOLK. Hier. Hier war ihre Stadt.
Und nun zeichneten sich in ihrem Kopf wie eine rote Flammenlinie die Erinnerungen an ihre morgenliche Erfahrung ab. Das gräßliche Bild, als sie ins Zentrum des Grassterns geblickt hatte. Die Eindrücke, die sie in panischer Verwirrung zu ihrem Vater hatten fliehen lassen, um bei ihm Trost zu suchen. Die Klauen, die klickenden Schnäbel, die höhnenden fremdartigen Augen. Sie hörte wieder das zischende Gelächter und die verführerisch wispernden Stimmen. Und nun wußte sie, was diese schreckliche Vision ihr zu sagen hatte.
Noch einmal beschwor sie das Bild in sich herauf, wie die siegreichen Heere des VOLKS das NEST zerstörten, wie sein Reichtum vernichtet, seine Wahrheit niedergemetzelt, der Ei-Plan ausgelöscht und sogar auf entsetzliche Weise die Köngin-der-Königinnen vernichtet wurden. Sie stellte sich dem allem und sah es höchst lebendig in ihrem Kopf.
Aber zu ihrer Verblüffung berührte das alles sie nicht mehr. Sie fand nichts mehr von der Empörung in sich, welche die gleichen Bilder noch vor kurzem in ihr ausgelöst hatten. Sie war befreit. Heute endlich hatte sie den Zauberbann ein für allemal gebrochen.
Was bedeutet es mir schon, wenn das Nest zerstört wird? Wenn die Himmlische Fünffaltigkeit beschlossen hat, daß unsere Bahn und die der Hjjks auf Kollisionskurs laufen sollen, nun, so muß das so geschehen, wird geschehen und ist gut so. Und ist gut so. Und wenn der Zusammenstoß erfolgt, dann gehört meine Loyalität meinen eigenen Leuten.
Alles war für sie nun klar und deutlich.
Wenn es denn zum Krieg kam, dann durfte sie nicht das Geschick des Insektenvolkes beklagen, für das sie so lange mutig eingetreten war, sondern die Verluste an jungen Männern und Frauen aus dem VOLK — ihrem Volk —, die bei dem Feldzug zugrundegehen würden und Tote sein, lang bevor ihre natürliche Zeit gekommen war. tragische, sinnlose Verluste. Darin lag das wirklich Entsetzliche: ihr Blut meilenweit vergossen in den endlosen öden Nordlanden.
„Nialli?“ Hreshs Stimme drang zu ihr wie aus einer anderen Welt.
Sie gab ihm keine Antwort. In ihrem Hirn kreisten wirbelnd Fragen, die sie nicht zu stellen wagte, und Antworten, die unvorstellbar waren.
Wer sind diese Hjjks, die zu lieben ich behauptete?
Nun, sie sind diese Kreaturen, die mich meiner Mutter und meinem Vater entrissen haben, die mich an einen fremden Ort brachten und mich dort zu etwas verwandelten, als das ich nie gedacht gewesen bin.
Aber warum wollte ich sie dann gegen mein eigenes Volk verteidigen?
Sie haben meine Seele verzaubert und mich für ihre Sache gewonnen.
Und Kundalimon — den du liebtest? Was ist mit Kundalimon?
Ihn liebe ich noch immer. Aber sie hatten mit ihm getan, was sie auch mir antaten, damit sie ihn mißbrauchen konnten; und sie würden auch mich durch ihn benutzt haben, wenn er am Leben geblieben wäre.
„Nialli? Nialli!“ Schon wieder Hresh, und er rief nach ihr vom anderen Ende des Firmaments her. Wie in einer Trance sagte sie: „Ja, Vater?“
„Was geschieht mit dir, Nialli?“
Sie öffnete die Augen. „Ich wache auf“, sagte sie. „Aus einem sehr langen Traum.“
Die Caviandis drängten sich warm und weich an sie und rieben die weichen Schnauzen an ihr. Sie streichelte sie behutsam.
Hresh fragte: „Ist wirklich alles in Ordnung?“
„Ja. Ja. Alles ist gut.“ Sie lächelte. „Sei nicht so betrübt, Vater. Noch immer wachen die Götter über uns. Und sie lenken und leiten uns.“ Sie ergriff seine Hand. „Ich glaube, ich gehe jetzt wieder, wenn du nichts dagegen hast. Ich will mit Thu-Kimnibol sprechen.“
Die Rekruten des ‚Schwerts von Dawinno‘ hatten das ganze Stadionfeld mit Beschlag belegt. Sie rannten, sprangen und kletterten über Hürden und fochten Scheinkämpfe mit stumpfen hölzernen Trainingsschwertern aus. Thu-Kimnibol war sich bewußt, daß ihm nur wenig Zeit blieb, die Krieger zurechtzuschleifen und hart zu machen. Jeden Tag mußte das Heer, das Salaman ins Hjjk-Land entsandt hatte, um die Ermordung ‚seiner‘ Akzeptänzler zu rächen, auf Gegenaktionen der Nest-Verteidigertruppen stoßen. Und dann war die Zeit der Finten und Scheingefechte vorbei, und es würde endlich ernsthaft Krieg sein. Und Thu-Kimnibol wußte natürlich auch, daß lang bevor eine Nachricht von der Vernichtung des salamanischen Expeditionskorps ihn hier im Süden erreichen konnte, seine eigenen Truppen bereits auf dem Marsch in den Norden sein mußten, um sich der Streitmacht des Königs in Yissou anzuschließen.
„Reißt eure butterweichen Beine höher, springt höher, ihr Lahmärsche!“ Das war Maju Samlor. Die meisten Ausbilder in Thu-Kimnibols Heer waren Angehörige der Stadtgarde. „Ihr watschelt wie trächtige Weiber herum!“ kam eine andere Stimme aus der gegenüberliegenden Stadionecke. „Setzt mal ein bißchen mehr Dampf dahinter!“ Und in einer anderen Ecke lachte ein riesenhafter Beng in einem gewaltigen Helm mit sieben Hörnern dermaßen laut, daß man es deutlich quer über das ganze Feld hören konnte, und schleuderte drei Rekruten mit einem mächtigen Ausholen seiner Hellebarde durch die Luft.
Thu-Kimnibol erhob sich und klatschte Beifall. Das Kriegsvolk brauchte Ermunterung. Es war genau wie das, was Esperasagiot vor langem über seine Xlendis gesagt hatte, als die Gesandtschaft nach Yissou aufbrach: Stadtzucht, keine Erfahrung und kein Training über lange schwere Strecken. Sogar die kräftigsten Rekruten brauchten einen eisenharten Schliff, um sie auf die bevorstehenden Kämpfe vorzubereiten.
Das Ganze entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Thu-Kimnibol erinnerte sich, was sein Vater ihm erzählt hatte: Daß in den langen trägen Tagen seinerzeit im Kokon besondere Maschinen für die Krieger aufgestellt waren, an denen sie sich abstrampeln mußten, um ihrer Muskelerschlaffung entgegenzuwirken. Den ganzen Tag lang schufteten sie schwitzend und grunzend an Apparaten, die so ergötzliche Namen trugen wie: ‚Das Rad Dawinnos‘, ‚Webstuhl Emakkis‘ oder die ‚Fünf Götter‘. Und dann vergingen Tausende von Jahren Kokonleben, und es zeigte sich nie und nirgends ein einziger Feind, da sie ja dermaßen sicher in ihrem Bunker im Berghang hockten. Und nun lebte das VOLK in der Freiheit und offen, und es wimmelte allüberall nur so von Feinden. Und dennoch war das Leben in den großen Städten weiterhin zu angenehm, zu lasch. Es hatte die Leute verweichlicht.
„Springt!“ brüllte Maju Samlor wieder. „Höher! Streckt eure müden Knochen! Und du, du Volltrottel, nimm deinen Sensorschwanz da weg!“
Thu-Kimnibol lachte. Dann blickte er auf und sah Chevkija Aim durch die Sitzreihen zu ihm herabsteigen. Der Wachhauptmann salutierte stramm und sprach:
„Dumanka ist da, Edler. Und Esperasagiot mit seinem Bruder.“
„Schön. Bring sie her!“
Die drei Männer tauchten aus dem Tunnel unter der Tribüne auf. Zuerst Dumanka, hinter ihm die beiden Bengs. Sie salutierten. Esperasagiot sagte: „Meinen Bruder kennst du ja, Prinz? Hat eine gute Hand für Xlendis, hat er, mein Bruder. Sein Name ist Thihaliminion.“
Thu-Kimnibol betrachtete sich den Mann. Er war um Haaresbreite größer als Esperasagiot und hatte das Fell eines reinrassigen Beng von hellstem Gold. Anscheinend zwei, drei Jahre jünger als sein Bruder. „Das ist ein hohes Lob, wenn Esperasagiot meint, du kannst mit Xlendis umgehen. Es ist das erstemal, daß ich von ihm das Zugeständnis höre, daß er nicht der einzige Mann auf Erden mit Xlendiverstand ist.“