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Husathirn Mueris Augen weiteten sich. „Wirklich? Ja, natürlich. Ich hab es vergessen. Auch du bist also ein Jünger der Lehren Kundalimons geworden. Das geht wohl allen so, nehme ich an, die noch hier sind. Die Helden ziehen in den Krieg, und die Friedliebenden bleiben zu Hause. Und so soll es sein. Was meinst du, wo wird das Ganze noch enden?“

„Im Königin-Frieden, Herr. In IHRER allumfassenden Liebe für alle.“

„Ja. Das hoffe ich wirklich zutiefst.“

Tu ich das wirklich? fragte er sich. Diese Hingabe an den neuen Glauben, wenn es denn das wirklich war, blieb ihm immer noch rätselhaft unerklärlich. Er besuchte regelmäßig den Betsaal; er respondierte mechanisch die Litaneien, die Tikharein Tourb und Chhia Kreun vorbeteten; und manchmal, hatte er jedenfalls das Gefühl, kam er dabei der Erfahrung einer religiösen Entrückung recht nahe. Eine vollkommen neue, unbekannte Erfahrung für ihn. Aber schließlich, er war sich in keiner Sache seiner Aufrichtigkeit jemals sicher gewesen. Und es war ja auch nur eine der vielen Absurditäten dieser Zeit, daß er auf einmal da irgendwo kniete und Lobgesänge auf die Königin-der-Königinnen herunterleierte, daß er zu diesen abscheulichen Hjjks betete, sie möchten die Welt aus der Angst befreien Er blickte, halb hoffnungsvoll, in die Vorhalle, ob dort nicht vielleicht doch noch eine wütend schnatternde Schar von Händlern hereinbrechen würde, mit amtlichen Dokumenten fuchtelnd, sich wechselseitig mit Flüchen überschüttend. Aber die Basilika blieb weiterhin still.

„Eine leere Stadt“, sagte er, ebenso zu sich selber wie zu dem Hauptmann der Garde. „Die jungen Männer sind fort. Die alten Leute sterben. Taniane wandert herum, als wäre sie das Gespenst ihrer selber. Keine Präsidialsitzungen. Hresh ist weg, und keiner weiß, wo er ist. Wahrscheinlich stöbert er hinter irgendwelchen Rätseln in den Sümpfen her. Oder er fliegt mal eben mit seinem Wunderstein zum Nest rauf und schwatzt ein bißchen mit der Königin. Das würde genau zu ihm passen, sowas! Das Haus des Wissens — verlassen, bis auf diese eine junge Frau, die nicht mit in den Krieg gezogen ist. Sogar Nialli Apuilana ist in den Kampf gezogen.“ Bei diesem Gedanken überkam ihn dumpfe Traurigkeit. Er hatte ihre Abreise beobachtet: wie sie stolz und aufgeregt winkend neben Thu-Kimnibol stand, als das Heer aufbrach. Das Mädchen war im Geiste verstört, kein Zweifel! Zuerst erzählt sie aller Welt, was für wundervolle gottheilige Geschöpfe die Hjjks doch sind, dann läßt sie sich auf so eine Affäre ein, mit einem fremden Abgesandten, diesem Kundalimon, nachdem sie jeden in Frage kommenden anständigen Kandidaten aus ihrer eigenen Stadt abgelehnt hat. Und dann bringt sie es fertig, sich der Armee anzuschließen, und zieht los, um die Königin zu bekämpfen! Das ergab doch keinen Sinn! Aber schließlich war noch nie etwas, was Nialli Apuilana getan hatte, logisch gewesen!

Eigentlich ist es ja ganz gut, dachte Husathirn Mueri, daß wir nicht zusammengekommen sind. Die hätte mich vielleicht mit in ihren Wahnsinn hineinziehen können.

Doch es schmerzte immer noch, wenn er an sie dachte. Wahnsinn her oder hin!

Chevkija Aim sagte: „Ich glaube, wir könnten die Basilika jetzt zumachen, Herr. Gestern, als Puit Kjai präsidierte, ist niemand gekommen, und ich glaube auch nicht, daß heute noch wer erscheint. Und du könntest auf diese Weise Boldirinthe noch einen Besuch machen, ehe es zu spät ist.“

„Boldirinthe.“, sagte Husathirn Mueri. „Ja. Ich müßte wohl zu ihr gehen.“ Er raffte sich aus dem Richterthron auf. „Also gut, Chevkija Aim. Das Gericht vertagt sich.“

Der Aufstieg über die Spiralrampe aus der Königlichen Kammer hätte eigentlich anstrengender sein müssen als der Weg hinab; doch zu seiner Verblüffung stellte Hresh in sich eine seltsame Vitalisierung fest, er fühlte sich beinahe springlebendig, stapfte frisch hinter Nest-Denker her und fiel kein Schrittchen zurück, als sie aus diesem tiefen Brunnen der Geheimnisse herauf in die ihm inzwischen vertrauten Regionen des Obernests stiegen.

In Hresh schwang eine merkwürdige Hochgestimmtheit nach seiner Begegnung mit der Königin nach.

Ein bestürzendes grandioses Geschöpf, ja. Dieses riesenhafte bleiche Ding, diese monströse Masse bebenden uralten Fleisches. Hunderte von Jahren alt? Tausende? Hresh konnte nicht einmal eine Vermutung darüber aufstellen. Er bezweifelte allerdings, daß SIE aus der Zeit der Großen Welt überlebt hatte, obwohl — unmöglich war auch das nicht. Alles war hier möglich. Er sah nun — fundierter als je zuvor —, wie anders die Hjjks waren, wie fremd, wie wenig sie in fast allem seinem VOLK ähnlich waren.

Und dennoch, sie sind ‚menschlich‘, dachte er. Menschlich in jenem besonderen, ganz speziellen Sinn, den er vor langer Zeit sich ausgedacht hatte: Sie bewahrten sich ein Bewußtsein für Vergangenheit und Zukunft, sie begriffen das Leben als einen Prozeß, als Entfaltung, Entwicklung, sie waren in der Lage, eine historische Tradition von einer Generation zur nächsten Generation aufzubauen. Die kleinen flinken Garaboons, die in den Wäldern herumkreischten, wußten nichts und lernten nichts hinzu, und sie endeten mit nichts. Und dies traf auch auf alle anderen Tiere unterhalb dieses ‚Hreshischen Menschen‘-Niveaus: für die Gorynthen, die sich in den Schlammsümpfen wälzten; für die zornigen, ewig kreischenden Samarange, die edelsteinäugigen Khut-Fliegen und so fort. Sie hätten ebensogut Steine sein können. Zur Menschhaftigkeit, dachte Hresh, gehört nun einmal die Erkenntnis von Zeit und Jahreszeiten, das Sammeln und Aufbewahren und Weiterreichen von Wissen und vor allem: etwas aufbauen und es erhalten. Und nach dieser Begriffsdefinition war Hreshs VOLK ‚menschlich‘; sogar die Caviandis waren es; und definitionsgemäß also auch die Hjjks. Menschlichkeit, das bedeutete nicht nur die Zugehörigkeit zu jener geheimnisvollen uralten Gattung schwanzloser Bleichlinge. Es war viel umfassender, viel universaler. Und es schloß die Hjjks ein.

Er sprach zu Nest-Denker: „Dies war eines der außergewöhnlichsten Erlebnisse meines Lebens. Ich danke den Göttern, daß ich diesen Tag erleben durfte.“

Es erfolgte keine Antwort.

„Was meinst du, werde ich noch einmal zu einer Audienz zu IHR geladen werden?“ fragte Hresh.

„Du wirst es zur rechten Zeit erfahren, wenn es der Fall ist“, antwortete Nest-Denker. „Und dann wirst du wissen.“

Nest-Denker klang ein wenig verdrießlich, und Hresh überlegte, ob der Hjjk ihm die tiefe Kommunion neidete, die er mit der Königin hatte erreichen können. Aber es war gefährlich, wenn man hjjkischen Äußerungen Gefühlsvaleurs unterstellte, wie sie beim VOLK gängig waren.

Inzwischen hatten sie fast die obere Etage erreicht. Hresh erkannte gewisse Artefakte wieder, die in Wandnischen lagen: einen glatten weißen Stein, der fast wie ein Riesenei aussah; einen geflochtenen Stern wie jener von Nialli, doch viel größer; einen kleinen roten Edelstein, in dem ein helles tiefes Feuer brannte. Sie waren ihm beim Beginn des Abstieges aufgefallen. Heilige Hjjk-Talismane? Vielleicht. Oder vielleicht auch bloße Dekorationsstücke.

Seit dem Eintreffen im Nest hatte Hresh in einer nüchternen Zelle an einem der äußeren Korridore gehaust — vielleicht einer Art von Isolations- oder Quarantäne-Trakt für frisch zugereiste Fremde. Es war eine runde Kammer mit einer niederen flachen Decke, auf dem hartgestampften Erdboden eine Schütte von getrockneten Binsen, die ihm als Lager diente; aber alles in allem für seine Anspruchslosigkeit bequem genug. Er freute sich jetzt auf sein Gemach. Zeit haben, um sich zu erholen und zu überdenken, was ihm soeben widerfahren war. Vielleicht würde man ihm später irgend etwas zu essen bringen, das Trockenobst und die Riegel in der Sonne gedörrten Fleisches, die hier die einzige Kost zu sein schienen, an die er sich jedoch ohne Schwierigkeit gewöhnt hatte.

Nun waren sie an der Spitze der Spiralrampe angelangt, an der Stelle, wo es zum Oberstock ging. Hier wandte Nest-Denker sich nicht nach links, wo Hreshs Zelle lag, sondern genau entgegengesetzt. Hresh zögerte. Er überlegte, ob ihm sein Orientierungssinn wieder einmal einen Streich spiele, wie schon so oft während seines Aufenthalts hier. Aber diesmal war er ganz sicher: Seine Zelle lag links. Aber NestDenker, der mittlerweile ein Dutzend Schritt vor ihm war, fuhr herum, schaute zurück und winkte ihm ungeduldig zu.