Hresh flüsterte: „Weißt du, was das ist?“
„Der Barak Dayir, Vater.“
„Ja. Das ist der Barak Dayir. Aber was er ist, das kann nicht einmal ich dir sagen. Der alte Prophet der Beng sagte zu mir, es ist ein Verstärker, was bedeuten würde, er macht Dinge größer, als sie sind. Ich habe dir ja einmal erklärt, daß einst die Menschlichen, die über die Erde herrschten, ihn gemacht haben, noch ehe die Große Welt entstand. Und sie gaben ihn uns, um uns zu schützen, wenn sie nicht mehr hier sein würden. Mehr weiß ich darüber nicht. Und nun mußt du ihn hüten. Und die Kunst, ihn zu benutzen, beherrschen lernen.“
„Doch wie soll ich.?“
„Tvinnre mit mir, Nialli.“
Ihre Augen wurden groß. „Tvinnern — mit dir, Vater?“
„Du mußt es tun. Es kann kein Übel dabei entstehen, nur viel Gutes. Und wenn wir verbunden sind, dann nimm den Barak Dayir und lege ihn auf die Spitze deines Sensor-Organs und fasse und halte ihn fest. Dann wirst du eine Musik hören. Und dann helfe ich dir weiter. Willst du das tun, Nialli?“
„Natürlich will ich.“
„Dann komm nah zu mir.“
Sie schloß ihn in die Arme. Himmel, er wiegt ja fast nichts mehr, dachte sie. Von ihm ist nur noch die Hülle übrig — und der Geist, der darin brennt.
„Deinen Sensor, dicht an meinen.“
„Ja. Ja.“
Es war eine Kommunion, wie Nialli sie nie im Leben zu erfahren geglaubt hätte. Doch kaum hatte ihr Sensor den seinen berührt, verschwanden Furcht und Unsicherheit gänzlich, und sie fühlte mit einer fast unvorstellbaren Freude, wie sein reicher Geist sich einem Wildwasser gleich in den ihren ergoß. Die Freude war so überwältigend, daß sie ganz benommen war, und für einen Augenblick wurde sie ganz davon fortgerissen; dann aber erinnerte sie sich an den Wunderstein, legte behutsam die Spitze ihres Sensors um ihn und faßte mit all ihrer Kraft zu. Und die Welt verwandelte sich zu nebligem Dunst. Eine Säule von Klang erhob sich unter Nialli. Ein mächtiger Akkord überwältigender Liebe schleuderte sie hoch und trug ihre Seele dem Himmel zu.
Aber Hresh war an ihrer Seite, lächelte sie zärtlich und voller Heiterkeit an, hielt sie, stützte sie, leitete sie. Gemeinsam schwebten sie durch das Himmelsgewölbe. Von Westen her strömte ein mächtiges goldenes Glühen, ein helles sinnverwirrendes fließendes Strahlen, das sich dann zu betäubendem Karminrot abkühlte, dann zu üppigem Tiefscharlachrot und schließlich zu seidigem Purpur. Die Dunkelheit begann nach Hresh zu greifen. Doch während sie diesem wartenden Reich zustrebten, machte er seiner Tochter ein Letztes zum Geschenk: seine Luzidität, seine umfassende Liebe, seine Weisheit. In ununterbrochenem Strömen sagte er ihr alles, was sie wissen mußte, bis er ihr alles gesagt hatte.
So also fängt es an, denkt Hresh. Die allerletzte Reise. Die Welt ringsum verdunkelt sich.
Nialli, denkt er. Minbain. Taniane.
Kreisend kommt der Strudel zu ihm herauf, um ihn zu verschlingen. Und er starrt in das Loch hinein.
Ist es das, wohin ich gehe? Wie wird es sein? Werde ich etwas fühlen? Werde ich etwas riechen und schmecken können? Wenn ich doch nur etwas klarer sehen könnte.
Ah, jetzt ist es besser. Aber wie seltsam es hier drin ausschaut. Bist du das, Torlyri? Thaggoran? Wie merkwürdig das alles ist!
Mutter. Nialli. Taniane.
O sieh doch, Taniane! Schau!
Als Nialli aus dem Zelt trat, stieß sie auf Thu-Kimnibol und Chham. Die Männer brachen ihr Gespräch ab und blickten ihr merkwürdig entgegen, als wäre sie in ein nicht-irdisches Geschöpf von solch sonderbarer Art verwandelt worden, wie sie es noch nie erblickt hatten.
„Wie steht’s mit deinem Vater?“ fragte Thu-Kimnibol.
„Er ist jetzt bei Dawinno.“ Ihre Augen waren tränenlos, und sie wirkte seltsam ruhig.
„Ach.“ Ein Schauder durchfuhr Thu-Kimnibols massigen Körper, und er schlug die Zeichen der Himmlischen Fünffaltigkeit, langsam und vorsichtshalber gleich zweimal, und das Zeichen Dawinnos ein drittesmal hinterdrein. „Nie hat es einen Mann wie ihn gegeben“, sagte er nach einiger Zeit mit brüchiger Stimme. „Wir sind zwar aus der selben Mutter, aber ich gestehe es euch, ich habe mich nie wirklich und wahrlich als sein Bruder fühlen können, weil er war, der er war. Sein Geist war beinahe wie der eines Gottes. Was wird nun aus uns werden, jetzt wo er nicht mehr bei uns ist?“
Nialli hielt ihm den Beutel mit dem Barak Dayir entgegen.
„Er gab mir den Wunderstein“, sagte sie. „Außerdem habe ich jetzt auch viel von Hresh in mir. Du hast gehört, wie er anordnete, daß ich der nächste Chronist sein solle? Nun, ich will jetzt Hresh für uns werden, wenn ich es kann. Ich werde heute abend die Worte für ihn sprechen, und wir werden, was von ihm übrigblieb, zur Ruhe betten. Doch er selbst ist bereits in Dawinnos Schoß.“
„Er war schon immer bei Dawinno, Edle“, sagte Chham plötzlich. „Oder jedenfalls wurde von ihm berichtet, daß er vom Tag seiner Geburt an Umgang mit den Göttern hatte. Und gewißlich war es so. Und ich zweifle nicht daran, obwohl ich selbst ihm nie begegnet bin. Was für ein Tag der großen Verluste dies ist!“
Thu-Kimnibol sagte: „König Salaman ist heute gleichfalls von uns gegangen. Prinz Chham — oder ist es schon König Chham? — kommt gerade von ihm.“
„Dann werden wir gemeinsam trauern“, sagte Nialli Apuilana. „Und wenn ich die Worte spreche, dann sollen sie für unser beider Väter gesprochen sein.“
„Wenn du so gütig sein willst, Edle. Es wäre mir ein großer Trost.“
„Wir werden sie Seite an Seite betten an diesem verlassenen Elendsort“, sprach Thu-Kimnibol. „Und es wird kein elender, kein verlassener Ort mehr sein, denn Salaman und Hresh wurden hier begraben. Sie waren die zwei klügsten Männer der ganzen Welt.“
Taniane stützte sich mit der linken Hand auf die Koshmar-Maske, und mit der rechten auf die Lirridons und kämpfte gegen die Betäubung an, die den Nachmittag über in ihrer Seele immer stärker fühlbar geworden war, eine merkwürdige unangenehme Kälte unter dem Brustbein; und sie raffte, so gut es ging, ihre Kraft zusammen und zwang sich, dem zu folgen, was Puit Kjai ihr zu erklären versuchte.
„Ein Aufstand, sagst du? Gegen mich?“
„Gegen uns alle, Edle. Ein Aufruhr, der darauf abzielt, alle hinwegzufegen, die in der Stadt Dawinno über Macht und Ansehen verfügen.“
Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Verfügt noch irgendwer bei uns in Dawinno über Macht und Ansehen, Puit Kjai?“
„Aber, Edle! Herrin, was sagst du da?“
Taniane wandte den Blick ab. Die gespensterhaft intensiven roten Augen Puit Kjais waren ihr an diesem Tag einfach zuviel. Es kam ihr so vor, als lebte sie nun schon seit Jahren mit diesem Gefühl der seelischen Erschöpfung, aber heute schien sie fast das Stadium der Paralyse erreicht zu haben.
Sie streichelte die Masken. Früher einmal hatten sie die Wand in ihrem Rücken geschmückt; doch vor einer Weile — kurz nachdem Nialli in den Krieg gezogen und Hresh verschwunden waren — hatte Taniane sie abgenommen und vor sich auf den Arbeitstisch gelegt, wo sie sie leicht sehen und sie berühren konnte, wenn ihr danach war. Sie brachten ihr Trost und, so glaubte sie, verliehen ihr Kraft. In den Tagen des Kokons, hatte Boldirinthe ihr einmal erzählt, hatte es einen gewissen schwarzen Stein gegeben, der in der Zentralkammer in die Wand eingelassen war und der dem Andenken sämtlicher früherer Häuptlinge des Stammes geweiht gewesen war. Koshmar pflegte diesen Stein zu berühren und zu ihren Vorgängerinnen zu beten, wenn sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Dieser schwarze Stein war im Kokon zurückgeblieben, als der Stamm seinen Auszug machte. Jetzt wünschte sich Taniane, sie hätten ihn mitgenommen. Aber wenigstens hatte sie die Masken.