„Sie ist die Essenz und die Substanz!“ rief Tikharein Tourb laut. „…die Essenz und die Substanz!“ plapperte die Gemeinde nach. Und Husathirn Mueri zwang sich und brüllte die Antwort mit.
Er war jetzt ein wenig ruhiger. Diese plötzliche Eröffnung von Chevkija Aim hatte es ihm möglich gemacht, sich aus seinem fieberhaften Brüten zu lösen. Doch als die Litanei immer weiter ging und kein Ende zu finden schien, wurde er unruhig. Er mußte in Kürze bei der Begrüßungszeremonie erscheinen; das Präsidium mußte vollzählig versammelt sein, um die heimkehrenden Helden zu bejubeln. So zuwider ihm dies war, er wagte dennoch nicht, dem Staatsakt fernzubleiben; es hätte ja so aussehen können, als. erlaubte er sich eine abgrundtiefe Ranküne, und das würde ihm nur Ärger eintragen. Aber wenn Tikharein Tourb jetzt nicht bald etwas Tempo zulegte.
Aber dann, endlich, war die Glaubenskongregation vorbei und endete mit den üblichen Tvinnereien. Und als das Feuer ihrer Kommunionen von ihnen gewichen war, stahlen sich die Gläubigen einzeln und stumm aus dem Versammlungsraum.
Husathirn Mueri und Chevkija Aim erhoben sich und traten zum Altar, wo Tikharein Tourb sie erwartete.
Die Augen des Jungen wirkten an diesem Morgen noch flammender als sonst. Sein Fell knisterte vor Spannung.
„Es ist so, wie ich es vorhin verkündet habe“, beschied er Husathirn Mueri. „Heute ist der Tag, an dem die Siegel aufgebrochen werden. Es ist der Tag der Königin. Und ihr beide sollt die Werkzeuge ihres Wirkens sein.“
Husathirn Mueri runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht.“
„Prinz Thu-Kimnibol hat Schmach über die Königin gebracht. Sein Leben ist bereits verwirkt für den feigen Mord an IHREM heiligen Mann Kundalimon. Jetzt aber ist er auch in das Allerheiligste des Nests-der-Nester eingedrungen und hat versucht, IHR seinen Willen aufzuzwingen. Dafür und für zahlreiche weitere Missetaten hat die Königin das Todesurteil über ihn verhängt, und du, Husathirn Mueri, wirst es am heutigen Tage vollstrecken.“
Die Luft blieb ihm weg, als hätte ihm jemand einen Hieb in die Magengrube versetzt.
„Du wirst ihn ins Herz treffen, wenn er vortritt, um sich bejubeln zu lassen. Und du, Chevkija Aim, du wirst im selben Augenblick Taniane niederstrecken.“
Es war nicht zu glauben, daß dieser dämonische Zwerg nur ein kleiner zehn-, zwölfjähriger Knabe sein sollte.
Verdutzt fragte Husathirn Mueri: „Auf der Honoratioren-Tribüne?“
„Vor dem Angesicht des ganzen Volkes, ja. Das wird das Zeichen sein. Dann wird das VOLK sich erheben und wird die übrigen Hochgeborenen totschlagen, ehe sie auch nur begreifen, was ihnen geschieht. Die gesamte herrschende Kaste muß verschwinden, alle unsere Unterdrücker, alle die Feinde der Königin: Staip, Chomrik Hamadel, Puit Kjai, Nialli Apuilana — alle! In einem Nu und einem raschen Augenblick! Nur du, Husathirn Mueri, wirst aus dem ganzen Präsidium übrigbleiben.“ Tikharein Tourb grinste zähnebleckend wie ein wildes Tier. „In der Neuen Ordnung wirst du hier Nest-König sein. Chevkija Aim wird der Nest-Wardein sein.“
„Nest-König?“ wiederholte Husathirn Mueri dumpf. „Ich soll NestKönig sein?“
„Diesen Titel werden wir dem weltlichen Herrscher geben. Und sein Erster Minister heißt Nest-Wardein. Und ich“, sprach Tikharein Tourb weiter, „werde euer Nest-Denker sein, die Stimme der Königin in der Dawinno genannten Stadt.“ Er lachte „Sobald wir die Neue Ordnung haben. Die herbeiführen zu helfen ihr zwei am heutigen Tage die Auszeichnung habt.“
Als sie aus dem Bethaus traten, sagte Husathirn Mueri: „Geh du schon mal voraus. Ich muß mir erst noch die Festrobe anziehen.“
Chevkija Aim nickte. „Also, wir sehen uns dann auf der Empfangstribüne.“
„Ja.“ Er packte Chevkija Aim am Handgelenk und hielt ihn kurz fest. „Noch etwas. Trotz allem, was Tikharein Tourb gerade sagte, will ich, daß du eins ganz klar begreifst: Nialli Apuilana muß verschont bleiben!“
„Aber. Tikharein Tourb wünscht ausdrücklich.“
„Es kümmert mich keinen Gorynthenfurz, was er ausdrücklich wünscht. Ihr könnt die ganze Bagage abschlachten, es ist mir egal. Ich bin sogar gern bereit, selber den Dolch zu führen. Aber sie bleibt am leben! Ist das klar, Chevkija Aim? Sollte sich erweisen, daß sie später Schwierigkeiten macht, können wir sie immer noch beseitigen. Aber hier und heute rührt niemand sie an, wenn das Schlachtfest beginnt. Befiehl deinen Wachen, sie zu schützen. Oder — ich schwöre es bei der Fünffaltigkeit — ich werde dafür sorgen, daß fünfzigfältig gerächt wird, wenn ihr irgendein Harm geschieht. Ist dies klar und hast du’s kapiert, Chevkija Aim?“
Thu-Kimnibol schien es, als wäre die gesamte Stadtbevölkerung auf den Beinen, um seine heimkehrenden Kriegshelden zu begrüßen. Direkt am Emakkis-Tor hatten sie eine mächtige hölzerne Tribüne errichtet, groß genug für sämtliche Mitglieder des Präsidiums und noch eine Menge von Leuten dazu. Und darum herum scharten sich Hunderte, Tausende von Bürgern, eine gigantische Masse, praktisch jede Seele in Dawinno, die nicht mit in den Krieg gezogen war.
Seine Hand schloß sich fester um Niallis Arm. „Da, siehst du, da droben ist Taniane? Und Staip. Und Chomrik Hamadel. Und der dort, der mit dem enormen Helm, ist vermutlich Puit Kjai.“
„Simthala Honginda und Catiriil sind auch da, dort drüben rechts neben Staip. Und ist der dort nicht Husathirn Mueri? Ich kann ihn kaum sehen, weil dieser lange Lackel von Stadtgardist mir die Sicht versperrt. Aber diese grellen weißen Streifen, der schwarze Pelz. er muß es sein.“
„Genau. Das ist er. Ich glaube, heut hat er auch ein noch längeres Gesicht aufgesetzt als sonst.“
„Aber wo ist denn Boldirinthe? Ich kann sie nirgends sehen.“
„Wir würden sie nicht übersehen können, falls sie da wäre. Aber es dürfte ziemlich mühsam sein, sie auf das Podium da raufzuhieven.“
„Vielleicht lebt sie gar nicht mehr.“
„Du meinst.“
„Sie war alt. Sie war krank.“
„Ich bete, daß es nicht der Fall ist“, sagte Thu-Kimnibol. Aber insgeheim vermutete er, daß Nialli wohl recht hatte. Es war eine Zeit gewesen, in der die großen alten Leute sich verabschiedet hatten.
Eine behelmte Gestalt auf einem edel aussehenden grauen Xlendi kam ihnen jetzt mit dem Stadtbanner in der Hand entgegengeritten. Nach kurzem erkannte Thu-Kimnibol den Reiter als den jungen Edeling und Krieger Peliththrouk, den Favoriten von Simthala Honginda, und er hatte zur Entourage während der Gesandtschaft an den Hof König Salamans gehört. Das kam ihm nun vor wie vor Millionen Jahren. Seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag, an dem Dumanka die Caviandis gejagt und gebraten hatte; damals hatte Peliththrouk ein so idealistisches Plädoyer geliefert — über die Gemeinsamkeit, die Einheit zwischen allen vernunftbegabten Geschöpfen. Daß man ihm jetzt diesen jungen Mann, einen der leidenschaftlichsten Advokaten des Friedens, als offiziellen Begrüßungsherold entgegensandte, war ein gutes Omen für die Aussöhnung, die nun zuwege gebracht werden mußte.
Peliththruk sprang aus dem Sattel und blickte zu ihnen herauf.
„Unser Häuptling entbietet Grüße. Sie hat mich beauftragt, euch zu den Ehrenplätzen zu geleiten.“
Thu-Kimnibol nickte Nialli Apuilana zu. Gemeinsam stiegen sie aus ihrem Wagen. Peliththruk lächelte. Er breitete weit die Arme aus und begrüßte sie mit feierlicher Akkolade, zuerst Thu-Kimnibol, dann Nialli Apuilana.
„Was für ein prachtvolles Wetter“, murmelte Thu-Kimnibol, während sie dem jungen Mann zur Honoratioren-Tribüne folgten. Stadtgardisten hielten die Menschenmenge zu beiden Seiten zurück. Überall wehten knatternde Banner. Die Sonne stand hell und warm bereits hoch am Himmel. Als sie am Fuß der Treppe zur Tribüne angelangt waren, tastete Nialli nach Thu-Kimnibols Hand. Sie schlangen ihre Finger ineinander.