„Sie wollen über einen Friedensvertrag verhandeln, soweit ich informiert bin“, sagte Kartafirain lachend. Er war ein großer silberpelziger Mann aus der Koshmar-Linie und ragte Thu-Kimnibol fast bis in Schulterhöhe, und er war von Natur aus jovial, aber streitsüchtig. Sein Erzeuger war der Kriegsmann Thhrouk gewesen. „Frieden? Ja, wer sind die denn, daß die von Frieden reden dürften? Die wissen ja nicht einmal, was das Wort bedeutet!“
„Vielleicht hat Hresh das ja mißverstanden“, sagte Si-Belimnion und kratzte sich an den Fettwülsten unter seinem dichten graublauen Fell. Ein reicher Mann, dieser Si-Belimnion, und sehr wohlgenährt. „Vielleicht bringt der junge Mann uns ja nicht eine Friedensbotschaft, sondern die Kriegserklärung. Hresh wird allmählich ganz schön alt, wenn ihr meine Meinung hören wollt.“
„Ja, das geht uns allen so“, erwiderte Chomrik Hamadel. „Aber willst du damit sagen, Hresh kann nicht mehr zwischen Frieden und Krieg unterscheiden? Er hat den Wunderstein genommen und damit das Hirn des jungen Mannes erforscht, hat mir Curabayn Bangkea gesagt. Man muß dem Heiligen Stein, und was er sagt, trauen.“
„Ein Friedensvertrag“, sagte Maliton Diveri und schüttelte bedenklich den Kopf. „Und das mit den Hjjks! Was werden wir tun? Unsre Stirn in den Staub pressen und den Göttern für solche Gnadenfülle danken, nehme ich an!“
„Selbstverständlich“, erwiderte Thu-Kimnibol scharf. „Und dann schwänzeln wir los und kleben unsre Sigille unter diesen Vertrag. Ich werde zuerst unterschreiben, wenn sie mich lassen. Wir müssen doch unsere tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Für die Freundlichkeit der Wanzlinge! Daß sie sich dazu herablassen, uns im Besitz unsrer eigenen Stadt zu lassen, soweit ich informiert bin, und sogar vielleicht noch etlicher Morgen Agrarnutzland vor der Stadt.“
„Sind das die Vertragsbedingungen?“ fragte Si-Belimnion. „Ich habe da was für uns viel Günstigeres gehört. Daß die Hjjks sich von Vengiboneeza fernhalten werden, vorausgesetzt, wir streben keine Expansion an über.“
„Wie es auch aussehen wird“, sagte Kartafirain plump, „wir werden dabei die Verlierer sein. Darauf könnt ihr eure Ohren wetten — und eure Sensororgane dazu. Wenn das Präsidium tagt, müssen wir in der Debatte diese Geschichte abschmettern.“
„Und wann passiert das?“ fragte Chomrik Hamadel.
„In einer Woche, zehn Tagen, vielleicht schon eher. Während Tanianes Tochter diesen Kundalimon versorgt, soll sie ihn in seiner Sprache über die Einzelheiten des Vertrags aushorchen. Die kann ja bekanntlich dieses Kauderwelsch verstehen. Die hat sie gelernt, als sie selber unter den Wanzen gelebt hat. Dann sagt sie Taniane, was sie herausgekriegt hat, und dann kommt das alles vors Präsidium und wird in einer Generaldebatte.“
In diesem Moment verließ Staip, der die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben hatte, plötzlich den Raum. Und zwar mit hochgerecktem Sensor. Es hatte den Anschein, als sei der altehrenwerte Krieger einem Ruf gefolgt, den keiner außer ihm hören konnte. Es breitete sich eine peinliche Stille aus.
Nach einer Weile brachte Kartafirain mühsam das Gespräch wieder in Gang. „Ich kann überhaupt keinen Nutzen darin erkennen, wenn man Nialli Apuilana in die Geschichte involviert.“ Er schaute Thu-Kimnibol an. „Was kann sie denn schon im Idealfall bewirken?“
„Warum sagst du sowas?“
„Weil sie so. anders ist. Lieber Freund, du weißt doch viel besser als einer von uns, was für ein Typ sie ist. Glaubst du, es ist wahrscheinlich, daß sie was Brauchbares herausfindet? Und wenn, daß sie es uns sagt? Hat sich dieses Mädchen jemals zur Kooperation mit irgendwem bereitgefunden? Hat sie auch nur eine Silbe darüber preisgegeben, was zwischen ihr und diesen Hjjks vorgefallen ist, als sie dort Gefangene war?“
Thu-Kimnibol sagte: „So sei doch ein bißchen großmütiger. Sie ist intelligent und nimmt das Leben ernst. Und sie ist kein kleines Mädchen. Durchaus zur Wandlung und Veränderung fähig. Vielleicht bewirkt ja diese Ankunft des Gesandten, daß sich in ihr so etwas wie Verantwortungsgefühl gegenüber der Stadt entwickelt, oder doch wenigstens gegenüber ihrer eigenen Familie. Und wenn überhaupt jemand aus diesem Fremden aus dem Norden für uns nützliche Informationen herausholen kann, dann sie. Außerdem.“
Er brach mitten im Satz ab. Staip war zurückgekehrt. Er stakte straff herein, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war ernst. Leise sagte er zu Thu-Kimniboclass="underline" „Boldirinthe würde dich gern sprechen.“
Die Opferpriesterin war aus dem Krankenzimmer gekommen und wartete im Vorzimmer. Boldirinthes gewaltige Fleischmassen quollen über die Ränder eines geflochtenen Rohrsessels, dem es sichtlich schwerfiel, die Last zu tragen. Sie machte eine Andeutung, als wolle sie sich erheben, aber es blieb bei der Geste, und sie sank sofort wieder tief in den Sitz, sobald Thu-Kimnibol ihr mit einer Bewegung bedeutet hatte, sie möge Platz behalten. Sie wirkte bedrückt, und dies war atypisch für sie, denn normalerweise sprudelte sie über von Lebensfreude und Fröhlichkeit — sogar in Zeiten äußerster Düsternis.
„Also — es geht zu Ende?“ fragte Thu-Kimnibol ohne Umschweife.
„Ja. Sehr bald. Die Götter rufen sie zu sich.“
„Und du kannst nichts tun?“
„Alles, was möglich war, wurde getan. Das weißt du doch. Aber gegen den Willen der Fünffaltigkeit sind wir machtlos.“
„Ja. Das sind wir wohl.“ Er nahm die Hand der Opferpriesterin zwischen seine beiden Hände. Nun, da die Entscheidung klar war, fühlte er sich ruhig und gelassen. Er verspürte einen unklaren Drang, Boldirinthe dafür zu trösten, daß sie in ihrem Bemühen, ein Leben zu retten, gescheitert war, und dies, während sie ihrerseits ihm Trost zuzusprechen versuchte. Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Dann fragte er: „Wie lang noch?“
„Du solltest — jetzt Abschied nehmen“, sagte Boldirinthe. „Später ist es vielleicht zu spät.“
Er nickte. Dann ging er in das Gemach, in dem Naarinta lag. Sie wirkte gefaßt, und seltsamerweise sah sie unglaublich schön aus, als habe das lange Leiden jede kleinste fleischliche Unklarheit aus ihr herausgebrannt. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atem ging sehr schwach, doch sie war noch immer bei Bewußtsein. Die alte Blinde, diese Fashinatanda, hockte an ihrem Bett und salbaderte vor sich hin. Als er in den Raum trat, unterbrach sie ihre Litanei, stand auf und verließ lautlos das Sterbezimmer.
Dann sprach er kurz mit Naarinta; aber was sie sprach, war wolkigunklar, und er wußte nicht, ob sie etwas von dem begriff, was er zu ihr sagte. Und dann schwiegen sie beide. Es sah so aus, als hätte sie schon mehr als den halben Weg in die nächste Welt hinter sich gebracht. Und dann sah Thu-Kimnibol, wie die überirdische Schönheit von ihr zu schwinden begann, je näher der letzte Augenblick kam. Leise sprach er weiter zu ihr, sagte ihr, was sie ihm bedeutete. Er hielt ihre Hand fest und fest, so lange, bis es zu Ende war. Dann küßte er sie auf die Wange. Das Fell dort schien bereits so seltsam anders, war nicht mehr so weich wie früher. Ein Schluchzer (aber nur einer) stieg ihm in die Kehle und brach sich Bahn über die Lippen. Er war erstaunt, daß seine Reaktionen nicht heftiger waren. Doch der Schmerz war wirklich und trotzdem sehr tief.
Er ging dann. Zurück in das Audienzzimmer, wo seine Freunde stumm in einem kleinen engen Kreis zusammenstanden. Er überragte sie, breit wie eine hohe Mauer. Er fühlte sich auf einmal abgesetzt, isoliert von ihnen, abgeschnitten durch den schmerzlichen Verlust und den Mantel der Einsamkeit, der ihn umhüllte. Dieser abrupte Einbruch in ein Leben, das bisher von Glückseligkeit und Erfolg gekennzeichnet gewesen war und offenkundig ausgezeichnet durch die Gunst der Götter. Er fühlte sich wie ausgehöhlt, aber er begriff, daß diese seltsame Gelassenheit, die nun über ihn gekommen war, nur auf seine Erschöpfung zurückzuführen sei. Dann überwältigte ihn das starke Gefühl, daß sein bisheriges Leben jetzt, heute, mit dem Tod von Naarinta beendet war, daß nun auch er eine Verwandlung durchlaufen müsse — zu einer Wiedergeburt. Doch. wiedergeboren werden zu was? In was?