Dennoch war da ein Paradoxon; denn die Große Welt war zum Untergang bestimmt, und ihre Völker hatten im Bewußtsein des drohenden Untergangs Millionen Jahre lang weitergelebt. Aber — wie konnten sie dabei glücklich sein?
Na ja, dachte Hresh, eine Million Jahre, das ist ja ganz schön lange. Die Leute in der Großen Welt müssen ja eigentlich eine Menge Spaß gehabt haben — unterwegs zu dem unausweichlichen Untergang. Dagegen besitzt unsre Welt die fragwürdige Gefährdetheit des Neugeborenen. Nichts ist noch gesichert, nichts hat feste Fundamente, und wir haben keine Garantie, daß unsere noch unflügge Zivilisation eine Million Stunden, oder auch nur eine Million Minuten dauern wird.
Düstere Vorstellungen. Er müht sich, sie beiseite zu schieben.
Von der Brüstung aus schaute er über Dawinno hinaus. Die Nacht begann sich herabzusenken. Die verschwindenden purpurnen und grünen Wirbelschleier des Sonnenuntergangs im westlichen Firmament begannen zu verblassen. In der Stadt flammten da und dort die Lichter auf. Es war eine sehr großartige Stadt, gewiß, soweit man dies von Städten des Neuen Frühlings sagen konnte. Und dennoch, an diesem Abend wirkte alles an ihr irgendwie traumhaft und ungreifbar. Die Bauten, die er so lange für majestätisch gehalten hatte, kamen ihm auf einmal vor, als wären sie weiter nichts als leere Fassaden, über Holzstreben gespannte Kulissen aus Papiermache. Alles nur eine Schein-Stadt, dachte er schließlich niedergeschlagen. Sie hatten in allem nur improvisiert, alles so aussehen lassen, wie sie geglaubt hatten, daß es aussehen müsse. Aber war das auf die richtige Weise geschehen? Hatten sie überhaupt irgend etwas richtig gemacht?
Schluß damit, befiehlt er sich.
Er schloß die Augen, und fast sofort tauchte Vengiboneeza wieder vor ihm auf, das Vengiboneeza aus der Zeit, in der es die lebenspulsierende Metropole der Großen Welt gewesen war. Die gewaltigen schimmernden Türme, die geschäftigen Hafenkais und Werften, die wimmelnden Märkte, und Angehörige von sechs drastisch verschiedenen Rassen, die friedsam nebeneinander lebten; die blitzenden Sternenschiffe, die von fernen Planetensystemen zurückkehrten und Ladungen mit fremdartigen Geschöpfen und unbekannten Gütern brachten. Wie grandios war das alles, wie üppig, wie reich und vielfältig, wie gewaltig die hereinkommenden Ideenströme. der Zufluß an dichterischem, an philosophischem Potential, an Träumen und Planen, an unermeßlicher Vitalität.
Die vielfältige Schönheit überwältigte ihn momentan, wie dies stets der Fall gewesen war. Aber es dauerte nicht, und er fand sich wieder in seiner Trübsal gefangen.
Wie klein wir doch sind, denkt Hresh mit Bitterkeit. Was für einen kläglichen Abklatsch verschwundener Größe haben wir da geschaffen! Und sind noch dermaßen stolz darauf! Dabei haben wir in Wahrheit so wenig getan — wir haben nur nachgeahmt — als die Affen, die wir ja sind. Und nachgeahmt habe wir den Schein, nicht die Substanz. Und auch das könnten wir im kurzen Zittern eines Lidschlags verlieren.
Eine dunkle Nacht heute. Abgründig dunkel. Mond und Gestirne leuchten, wie sie es immer tun. Aber in deinem Innern tiefste Finsternis, nicht wahr, Hresh? Du hast einen Mantel über deine Seele gebreitet. Stolperst in erstarrter Schwärze tapsig umher, wie?
Der Gedanke durchfuhr ihn, er solle die nutzlosen Kugeln über die Brüstung werfen. Doch nein. Nein! So ausgebrannt sie sein mochten, sie konnten noch immer verlorene Welten in seinen Gedanken wachrufen. Sie waren Talismane, genau. Und sie würden ihn aus dieser Trostlosigkeit hinausführen. Er streichelt die seidigglatten Hüllen, und die unendliche Vergangenheit tut sich vor ihm auf. Und schließlich befreit er sich ein wenig aus seinem erdrückenden, erstickenden lautlos schreienden Elendsgefühl, in das er eingetaucht war. Dann kehrt auch bald die rechte Perspektive zurück. Heute, gestern, vorgestern, was bedeutet das schon angesichts des unermeßlichen Bogens der Zeit? Er trägt das Bewußtsein von Millionen Jahren geschichtlicher Vergangenheit in sich: nicht nur der Schichten der Großen Welt, sondern einer noch älteren Welt, von verschwundenen Reichen, vergessenen Königen, ausgestorbenen Geschöpfen; einer Welt, in der es noch kein VOLK gab, nicht einmal die Hjjks oder die Saphiräugigen, sondern nur die Menschen. Und vielleicht könnte es ja davor noch wieder eine andere Welt gegeben haben, auch wenn einem davon das Hirn schwindlig wird. Welten um Welten, und eine jede erwächst und blüht und verfällt und geht zugrunde: So ist eben der Wille der Götter, daß nichts vollkommen sein und nichts für immer und ewig dauern soll. Und was, wenn nicht dies, hätten ihn all seine historischen Forschungen lehren sollen? Eigentlich lag in dieser Erkenntnis auch eine starke Tröstung.
Sein ganzes Leben hindurch hatte er die Welt in sich hineingefressen, ihre bestürzenden Wunder hungrig aufgesogen. Als er noch klein war, hatten sie ihm den Spitznamen ‚Hresh-der-ewige-Fragegeist‘ gegeben. In hahnenstolzer Überheblichkeit hatte er sich später umbenannt — zu ‚Hresh-der-die-Antwort-weiß‘. Auch dies traf zu. Aber der Kindheitsname war dennoch der Wahrheit näher gewesen. In jeder Antwort verborgen liegt bereits die nächste Frage und bohrt und drängt.
Seine Gedanken schweifen zurück zu seinem achten Lebensjahr, zu einem Tag in der Zeit vor der ‚Zeit des Auszugs‘, als er sich durch die Luke des Kokons geschlichen hatte, um zu sehen, was da draußen war.
Wohin war dieser Knabe jetzt entschwunden? Nun, er war noch immer da. Ein wenig abgeschabt und zerschlissen zwar, aber immer noch Hresh, der unentwegt fragt. Torlyri, die liebreizende sanfte Opferfrau, hatte ihn damals erwischt. Ach, sie war schon seit langem tot. Fast fünfzig Jahre war das nun her. Wäre sie nicht gewesen, auch Hresh wäre seit langem schon tot und ebenfalls längst vergessen. — wenn sie nach ihrem Frühgebet die Luke wieder hinter sich geschlossen hätte, wäre er bis zum Einbruch der Nacht von den Rattenwölfen gefressen, oder von den Hjjks verschleppt worden, oder er wäre einfach in der eisigen Kälte, die damals herrschte, elendig erfroren.
Doch Torlyri hatte ihn am Bein erwischt und ihn zurückgerissen, als er über den Sims in die freie Welt zu klettern versuchte. Und als Häuptling Koshmar ihn für sein Sakrileg zum Tode verurteilt hatte, war Torlyri es gewesen, die sich erfolgreich für ihn eingesetzt hatte.
Wie lang war das her, wie weit, weit lag das zurück. Heute erscheint es ihm wie ein ganz anderes Leben. Oder wie eine ganz andere Welt.
Doch trotz allem gab es Kontinuität. Dieses unstillbare Verlangen, zu sehen, zu tun, zu lernen, war nie von Hresh gewichen. Du willst immer bloß wissen, hatte Taniane gesagt.
Er zuckte die Achseln. Und er ging hinein und legte die beiden Kugeln auf seinen Arbeitstisch. Das Dunkel drohte ihn erneut zu verschlingen.
Der Raum hier war sein Privatgemach. Niemand sonst hatte hier Zutritt. Hier bewahrte er den Barak Dayir auf und die anderen Weissagungsinstrumente, die von seinen Vorgängern auf ihn gekommen waren. Auch seine Manuskripte lagerten hier: Essays über die Vergangenheit. Meditationen über den Sinn des Lebens, über die Bestimmung des VOLKES. Er hatte die Historie von der Größe und dem Niedergang der Rasse der Saphiraugen niedergeschrieben, so gut er sie eben verstand. Er hatte über die Menschlichen geschrieben, die ihm sogar noch größere Rätsel aufgaben. Und er hatte auch Spekulationen über das Wesen der Götter angestellt.
Niemals hatte er einem ändern etwas von diesen Niederschriften zu lesen gegeben. Manchmal überkam ihn die Furcht, sie könnten vielleicht nichts weiter sein als ein Haufen hochgestochenen überkandidelten Unsinns. Und oft hatte er auch schon erwogen, das alles zu verbrennen. Warum auch nicht? Warum nicht diese toten Seiten den Flammen übergeben, so wie Thu-Kimnibol vor ein paar Stunden den Körper Naarintas ins Feuer gelegt hatte?