„Du wirst gar nichts verbrennen“, kam eine Stimme aus dem Schattendunkel. „Du hast nicht das Recht, Erkenntnis zu vernichten.“
Oft kamen ihm in den allerdunkelsten Stunden Visionen — manchmal war es Thaggoran, der alte, längst tote Thaggoran, sein direkter Vorgänger als Chronist; manchmal war es der Weise Alte Mann Noum om Beng vom Volk der Helmträger; manchmal sogar einer der Götter. Hresh bezweifelte solche Visionen niemals. Sie mochten sehr wohl Produkte seiner Einbildung sein, aber er wußte genau, sie sagten stets nur die Wahrheit.
Also sagte er jetzt zu Thaggoran: „Aber ist es wirkliche Erkenntnis? Was, wenn ich hier nur einen Berg von Lügen kompiliert habe?“
„Du weißt doch gar nicht, was Lügen heißt, Junge. Irrtümer können dir unterlaufen, möglich. Aber lügen, das wirst du niemals. Also verschone deine Bücher. Und schreibe weitere. Erhalte das Vergangene für die, die nach dir kommen werden.“
„Das Vergangene! Wozu soll das gut sein? Die Vergangenheit ist doch bloß eine Bürde!“
„Was plapperst du da, Knabe?“
„Es ist sinnlos, nach rückwärts zu schauen. Das Vergangene ist fort und dahin. Kann nicht bewahrt werden. Es entgleitet uns mit jeder Stunde unseres Hierseins. Und fort damit, den Himmlischen sei Dank! Die Zukunft, das ist es, woran wir denken müssen.“
„Nein“, sagt Thaggoran. „Die Vergangenheit ist der Spiegel, in dem wir erkennen können, was kommen wird. Das weißt du doch. Hast es stets gewußt! Was plagt dich denn heute mal wieder, mein Kleiner?“
„Ich war heute auf der Stätte der Toten und habe zugesehen, wie die Gefährtin meines Bruders zu Staub und Asche wurde.“
Thaggoran lacht dazu. „Ganze Welten sind zu Staub und Asche geworden. Neue Welten sind aus ihnen erstanden. Wie so muß ich dich eigentlich an derart einfache Dinge erinnern? Genau das hast du doch gerade heute vor ein paar Stunden den anderen auf dem Totenplatz gesagt.“
„Ja“, sagt Hresh und schämt sich auf einmal. „Ja, das habe ich zu ihnen gesagt.“
„Und ist es nicht der Wille der Götter, daß aus Leben Tod wird und aus dem Toten neues Leben?“
„Ja. Aber.“
„Aber. — nichts! Die Götter beschließen, und wir fügen uns ihrem Beschluß.“
„Die Götter verspotten uns“, sagt Hresh.
„Ach, meinst du wirklich?“ sagt Thaggoran ungerührt.
„Die Götter überhäuften die Große Welt mit Glückseligkeit über alles Begreifen — und schleuderten dann die Todessterne auf sie. Würdest du das nicht einen üblen Hohn bezeichnen? Und dann holten die Götter uns aus dem Langen Winter heraus und setzten uns in die Erbschaft der Welt, obwohl wir ein absolutes Nichts sind. Ist nicht auch dies übler Hohn und Spott?“
„Die Götter spotten unser niemals“, sagt Thaggoran. „Sie sind jenseits unseres Begriffsvermögens. Aber ich will dir eines sagen: Was die Götter beschließen, das tun sie aus guten, weisen Gründen. Ihre Wege sind geheimnisvoll und rätselhaft für uns, doch sie sind niemals bloße Bosheit und Launenhaftigkeit.“
„Ach, wenn ich das nur glauben könnte?“
„Aber, Kleiner“, sagt Thaggoran, „was sonst bleibt dir denn, woran du glauben könntest?“
Glauben, ach ja. Die letzte Zuflucht für den Verzweifelnden. Hresh ist bereit, das gelten zu lassen. Und er ist inzwischen auch beinahe besänftigt. Doch selbst, wo es um Glaubenssachen geht, klammert er sich noch immer an die Logik. Was der Alte ihm begreiflich zu machen versucht, befriedigt ihn nicht restlos, und er sagt:
„Dann sag mir doch — wenn wir schon die Beherrscher der Welt sein sollen, wie uns das in unseren alten Schriften gelobt wird —, wieso haben dann die Götter uns mit der beglückenden Gegenwart der Hjjks beschenkt, die unsere Widersacher sind? Angenommen, die Hjjks sägen uns ab, noch ehe wir wirklich haben wachsen können? Wo bleibt dann der weise Plan der Götter, Thaggoran? Das erklär du mir mal!“
Es kam keine Antwort. Thaggoran war verschwunden. Sofern er jemals dagewesen war.
Hresh glitt in seinen altvertrauten abgenutzten Sessel und legte die Hände auf das glatte Holz seines Arbeitstisches. Seine Vision hatte ihn nicht ganz so weit geführt, wie es nötig gewesen wäre, doch ihren Zweck hatte sie dennoch erfüllt. Seine innere Gestimmtheit war irgendwie verändert. Vergangenheit, Zukunft — alles beides in Dunkelheit gehüllt. Alles undurchdringlich, dachte er. Und im Schutz der Gedankenfinsternis findet die Verzweiflung gute Schlupfwinkel, um dort zu lauern. Dann jedoch fragte er sich: Aber ist das Ganze denn wirklich so übel? Was sonst sollte das Künftige sein als ein dunkles Unbekanntes? Und das Vergangene? Wir leuchten mit unsern schwachen Erkenntnisfunzeln hinein und versuchen es mangelhaft zu erhellen, und was wir daraus lernen können, leitet irgendwie weiter in das zweite gewaltige Unbekannte. Also ist unser Wissen für uns Trost und Schutz zugleich.
Aber ich weiß doch so wenig, dachte Hresh. Und ich muß so sehr viel mehr wissen. (Immer willst du nur wissen... wie Taniane gesagt hatte.)
Ja. Ja. Und JA! Ich will wissen!
Auch jetzt noch. Auch wo ich so müde bin. Auch jetzt noch!
„Wir haben deine Herkunft in den Registern im Haus des Wissens ausfindig gemacht“, erklärte Nialli Kundalimon. „Du bist tatsächlich hier geboren. Im Jahr 30. Also bist du jetzt siebzehn. Ich bin 31 geboren. Verstehst du?“
„Ich verstehe“, sagte er und lächelte. Vielleicht tat er das ja wirklich. Ein bißchen.
„Deine Mutter war Marsalforn, dein Vater war Ramla.“
„Marsalforn. Ramla.“
„Du wurdest 35 von den Hjjks entführt. So steht es im Stadtregister. Geraubt von einem Überfallkommando dicht vor den Mauern der Stadt. Genau wie ich. Marsalforn verschwand spurlos, als sie nach dir in den Bergen suchte. Ihre Leiche hat man nie entdeckt. Dein Vater verließ kurz darauf die Stadt, und niemand weiß, wo er sich jetzt aufhält.“
„Marsalforn“, wiederholte Kundalimon. „Ramla.“ Das übrige Informationsmaterial, das sie ihm zu übermitteln versucht hatte, schien für ihn keinen Sinn zu ergeben.
„Begreifst du, was ich mit dir vorhabe?“ fragte sie mit leiser, eindringlicher Stimme und rückte mit ihrem Gesicht dem seinen ganz nahe. „Ich will mit dir über das Leben im NEST sprechen. Ich will, daß du mir das alles wieder richtig leibhaft nahebringst. Wie es roch, die Farben, die Klänge. Was der Nest-Denker sagt. Ob du jemals mit dem Heer marschiert bist, oder ob du in der Ei-Produktion zurückbleiben mußtest. Ob sie dich jemals in die Nähe der Königin gelassen haben. Ich will alles wissen. Alles.“
„Marsalforn“, wiederholte er. „Mutter. Vater. Ramla. Marsalforn ist Ramla. Mutter ist Vater.“
„Du kapierst wirklich nicht viel von dem, was ich sage, was? Was, Kundalimon?“
Er lächelte. Es war das wärmste Lächeln, das ihr bisher von ihm zuteilgeworden war. Wie die Sonne, die durch eine Wolkenformation bricht. Aber er schüttelte den Kopf.
Sie mußte etwas anderes versuchen. So dauerte es zu lange.
Ihr Herz begann zu hämmern.
„Wir sollten am besten tvinnern“, sagte sie in plötzlicher Kühnheit.
Wußte er, was das bedeutete? Nein. Er gab keine Reaktion von sich, sondern behielt nur dieses starre Lächeln bei.
„Tvinnern — ich will mit dir tvinnern, Kundalimon. Was das ist, weißt du auch nicht? Tvinnr. Das tun wir vom VOLK mit unseren Sensoren. Weißt du überhaupt, was das ist, ein Sensororgan? Das Ding da, das bei dir da hinten herunterhängt wie ein Schwanz. Ich nehme an, es ist ein Schwanz. Aber eben viel mehr als ein Schwanz. Es steckt voller Rezeptoren, die durch dein Rückgrat direkt mit deinem Gehirn verbunden sind.“